Samstag, Dezember 15, 2012

Denken, bitte! Jetzt.

Albert Camus 

Der Fremde, 1940


(Schluss) Als er gegangen war, fand ich meine Ruhe wieder. Ich war erschöpft und warf mich auf meine Pritsche. Ich glaube, ich habe geschlafen, denn als ich wach wurde, schienen mir die Sterne ins Gesicht. Die Geräusche der Landschaft stiegen zu mir auf. Düfte aus Nacht, Erde und Salz kühlten meine Schläfen. Wie eine Flut drang der wunderbare Friede dieses schlafenden Sommers in mich ein.
In diesem Augenblick und an der Grenze der Nacht heulten Sirenen. Sie kündeten den Aufbruch in eine Welt an, die mir nun für immer gleichgültig war. Zum erstenmal seit langer Zeit dachte ich an Mama. Jetzt begriff ich auch, warum sie am Ende ihres Lebens einen "Bräutigam" genommen, warum sie dort wieder "Anfang" gespielt hatte. Auch dort drüben, dort im Altersheim, in dem die Leben erloschen, war der Abend wie ein melancholischer Waffenstillstand. Dem Tod so nahe, hatte Mama sich gewiss wie befreit gefühlt und bereit, alles noch einmal zu erleben. Niemand, niemand hatte das Recht, sie zu beweinen. Und auch ich fühlte mich bereit, alles noch einmal zu erleben. Als hätte dieser große Zorn mich von allem Übel gereinigt und mir alle Hoffnung genommen, wurde ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum erstenmal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt. Als ich empfand, wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich, da fühlte ich, dass ich glücklich gewesen war und immer noch glücklich bin. Damit sich alles erfüllt, damit ich mich weniger allein fühle, brauche ich nur noch eines zu wünschen: am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen.

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