Dienstag, Februar 21, 2012

Geschichte aus Geschichten

Sprache gibt nicht nur die Realität falsch wider -
es gibt gar keine Realität, die man widergeben kann.
Jean Baudrillard

einestages - Geschichte von innen
In den Regalen stehen sie millionenfach, Fotoalben, die ihre Besitzer in kurzen Hosen, mit Zahnlücken oder Konfirmationsanzug oder anderen Accessoires der jeweiligen biographischen Epoche zeigen. Unterm Kopfkissen finden sich dann die Tagebücher, hitzig geschriebene Beschreibungen des alltäglichen Einerleis, das den Menschen zum Erwachsenen macht. In Briefen, gut verstaut in unzähligen Schuhkartons, finden sich die Nachrichten von irgendwo an irgend wen, der dem Schreiber gerade wichtig war. Fotos, Tagebücher, Briefe - längst als Träger von Geschichten aus und über die Geschichte entdeckt. Persönlichkeiten der Zeitgeschichte haben sie hinterlassen und die Wissenschaft betrachtet es als ihre Aufgabe, aus ihnen zusätzliche Informationen zu destillieren, die historischen Ereignissen erst ihre Tiefenschärfe verleiht. 




Im Journalismus unserer Tage gibt es kaum eine solch brillante Idee wie die seit einigen Jahren erscheinenden Geschichten und Artikel, die auf Spiegel online als einestages erscheinen. Das Ziel der Serie ist groß gewählt: "Geschichte wird von Millionen erlebt - aber nur von wenigen aufgeschrieben. Gemeinsam mit ihnen wollen wir Zeitgeschichten sammeln und damit ein kollektives Gedächtnis unserer Gesellschaft aufbauen."
Hinter der hehren Absicht der Redaktion steht die Überzeugung, dass man gewissermaßen den Entstehungsprozess geschichtlicher Erinnerung umkehren könne, indem man sie notiert und dokumentiert, bevor sie in das Stadium der Geschichtlichkeit wechselt. Umstritten mag dabei auch sein, ob denn die Geschichte der eigenen Lebenssphären überhaupt mit den Methoden der Geschichtsschreibung und Geschichtsanalyse zu bewahren und zu bearbeiten sei. Umstritten, aber dennoch faszinierend zu erleben, wie sich bestimmte Ikonen der Erinnerung, Posen, Gesten, Poster und Slogans mit einem mal in einen neuen, anders erlebten und beschriebenen Zusammenhang stellen lassen, als es die die eine Perspektive der eigenen individuellen Erinnerung ermöglicht. Einesstages schafft es, die Menschen ins Bild zu rücken, die normalerweise hinter den Bildern und Eindrücken gestanden haben, als eben diese entstanden.





Berühmtes Beispiel ist das Porträt des Che Guevara, das millionenfach als Revolutionsikone um die Welt ging. Che wirkt entrückt, einsam in eine Zukunft blickend, die nur er sehen kann, männlich, schön, überirdisch. Das Foto entstand auf einer stundenlangen Paraden mit anschließender ausufernder rede des kubanischen maximo lider, Fidel Castro. In einem Sekundenbruchteil entschied sich der Fotograf, das Bild zu machen, und hatte eine völlig entrückte, scheinbar für sich allein stehende Abbildung des berühmten Revolutionärs der 60er Jahre gemacht. 
Einestages fügt der Legende von Che Guevara kein neues Kapitel hinzu, sondern taucht in den banalen Entstehungsprozess des Porträts ein, als ginge es darum, den Einkaufszettel des Fotografen wider zugeben. Faszinierend bleibt dennoch, dass die Wirkung des Bildes in keiner weise beeinträchtigt wird. Che bleibt der geheimnisvolle Einzelgänger mit seiner tragischen Kampflegende, der sich inmitten der allzu menschlichen Alltäglichkeit zeigt. Unser wissen über die Geschichte ändert sich dadurch nicht, aber die Wirkung des Fotos erhält eine neue Dimension.

Ein anderes Beispiel sind die vielen Geschichten aus der zeit des zweiten Weltkrieges. hier wie in vielen anderen Themen scheint die Frage "Wo warst du, als das geschah?" immer wieder der Interesse leitende Impuls gewesen zu sein. „Wo warst du, als das geschah und was ist tatsächlich geschehen?“ Und schließlich: „Was hat es mit dir gemacht?“ Man könnte einestages auch als einen Versuch interpretieren, der Wahrhaftigkeit und Unvollständigkeit der historischen Erinnerung und des Verstehens möglichst nahe zu kommen. Wo gemeinhin mangels geeigneter Quellen auf Vermutungen und mancherlei Querschlüsse gebaut werden muss, wenn man sich nicht auf die offizielle Geschichtsschreibung verlassen möchte, sollen diese Lücken von vornherein geschlossen werden, indem berichtet wird, was geschah. 


Spürbar werden die Folgen historischer Ereignisse, Spuren, die sie bei den Menschen hinterließen, Einschnitte, die sie in den Leben vieler hinterließen. Und man lässt sich Zeit, die Betroffenen ihre Sicht der Dinge darstellen zu lassen, ihre Perspektive erzählerisch anzubieten und nicht als Widerlegung oder Bestätigung bekannter Geschichtsschreibung herhalten zu müssen. In diesem Rahmen, vor diesem Hintergrund beginnt der Leser, sich in der Geschichte wohl zu fühlen, Geschichte wird erinnerbar und nachvollziehbar in ihrer Alltäglichkeit und Zeitzeugenschaft. Die Methode einestages zielt denn auch weniger auf Reflexion und Analyse ab, als mehr auf Teilhabe und Erleben. Zeitgeschichte wird praktisch im Prozess ihrer Entstehung festgehalten, es ist der permanente Livekommentar zum aktuellen Geschehen, von dem man sich für ein Später mehr Authentizität, mehr Präzision und mehr Nähe verspricht. Das eigene Leben und die eigene Zeit wird im Vollzug tendenziell zum Stoff historischer Erörterungen, beschreibend, nicht erklärend, da die geschichtlichen Fakten, beziehungsweise ihre Chronologie ja bekannt sind, wird der erzählerische Füllstoff szenisch nachgeliefert. 

Anders als Faust sagt der Erzähler zum Augenblick "Verweile doch, ich will von dir erzählen." Und es spannend zu beobachten, wie sich der Augenblick wieder verflüchtigt, wie die Hinzufügung einer weiteren, fremden Erlebnisperspektive mit dem Ende der Erzählung auch an ihr Ende kommt und das historische Nachvollziehen aufhört, verebbt und den Zuhörer-Leser in einem unbestimmten Schwebezustand zurücklässt. Diese Art der Reflexion geschichtlicher Ereignisse und Prozesse fügt den Reflexionen geschichtlicher Ereignisse in der Regel faktisch wenig hinzu, isoliert und punktuell bedeutend erfährt man von Dingen, die im Hintergrund geschahen, im Schlagschatten der Geschehnisse, von Menschen, die anwesend waren, als es sich vollzog, die aber auf keinem offiziellen Zeugnis oder Beleg auftauchen. Die anonyme Masse bekommt ein Gesicht, einen Namen, der Ablauf der Ereignisse bekommt Farbe und Gefühl, die Chronologie wird meist nicht verändert, das Buch der Geschichte wird nicht umgeschrieben.

Umgeschrieben wird möglicherweise die Geschichte der Zukunft, weil wir den immer zahlreichen Quellen immer mehr und mehr private und zufallsgesteuerte hinzufügen. Das Beispiel 9/11 zeigt aber schon, wie rasch trotz der unmittelbaren Zeitzeugenschaft vor Ort oder am TV sich Legenden und Erzählungen bilden, die sich blitzschnell tradieren, Gegenrede provozieren und doch wenigstens als Möglichkeit, so könnte es gewesen sein, bestehen bleibt. Hinzu kommt, dass die Information durch die globalen Medien unsere Wahrnehmung und Deutung bekannt gewordener Fakten beeinflusst und uns die freie, unbeeinflusste Urteilsfindung erschwert. 
Einestages, das selbst bereits multimedial auftritt, als Rubrik in Spiegel online, als Printausgabe und als TV Konzept, arbeitet selbst intensiv daran, das eigene Vorhaben, Zeitzeugenschaft zu schaffen, unmöglich zu machen. Das Prinzip ähnelt dem des Echolots von Walter Kempowski, der durch die Sammlung und Anordnung von Tagebuchnotizen, dem tatsächlichen Geschehen näher kommen wollte. Allerdings lässt der Gedanke, Geschichte zu rekonstruieren durch eine möglichst unmittelbare Berichterstattung eben diese Rekonstruktion nicht zu. Es ist der journalistisch-feuilletonistische Ansatz des Schreib-das-auf! der hier grandios und unterhaltsam untergeht. Vielleicht rettet das Unternehmen am Ende die feine Unterscheidung des kollektiven Gedächtnisses von der Geschichtsschreibung? Ich glaube das eher nicht. Wenn es so etwas wie das kollektive Gedächtnis tatsächlich gibt, dann ist es die Erinnerungsmaschine, die von Medien und Publikationen betrieben wird. Augsteins SPIEGEL ist rückblickend solch ein Teil dieser Maschine, weil manche der Auffassung sind, der SPIEGEL sei eine wichtige Quelle zeitgenössischer Geschichtsschreibung. Auf jeden Fall lebt die Crew des SPIEGEL offensichtlich so ihren Auftrag. Wie überhaupt weite Teile der Publizistik sub specie aeternitatis unermüdlich dabei sind, historische Maßstäben nachzuspüren und alles, was geschieht sofort in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Wenn dabei Methoden der Alltagsgeschichtsschreibung mitunter die Analyseansatz dominiert, ist das der eine Ansatz der Geschichtsschreibung, die dem deutschen Leitmedium Nummer 1 als Instrument zur Verfügung steht.

Die Frage, ob Geschichte sich in Geschichten erzählen und darstellen läßt, ist faktisch damit beantwortet, natürlich kann man dies tun und es ist ein gängiger Weg der Literatur. Ob man mit der Übernahme aus dem Journalismus allerdings tatsächlich mehr Fakten und Verstehen aufschließt, ist ungewiß. Geschichte von innen – das gibt es nicht wirklich. Wir kennen sie gar nicht anders und können sie doch immer nur in der Rückschau gefügig machen.

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