Mittwoch, Dezember 26, 2012

...eilt die Zeit, wir eilen mit!

Das neue Jahr beginnt in wenigen Tagen und eines ist heute schon mit absoluter Sicherheit klar: Es wird wieder, wie in den zurückliegenden Jahren, nicht genügend Zeit mit sich bringen. Zeit ist von jeher eine sehr rare Ressource, das ist keine Erkenntnis der Gegenwart, schon in der Antike und wahrscheinlich schon vorher, als Stonehenge und die Figuren auf den Osterinseln errichtet wurden, dürfte es einen akuten Zeitmangel gegeben haben.
Zumindest subjektiv, objektiv hat sich an dem uns zur Verfügung sehenden Zeitkontingent nichts geändert, sofern es diejenige Zeit ist, die Minute für Minute vergeht. Zeit als Bezeichnung unserer temporären Lebenserwartung einmal außen vor.
Anders sieht es mit der Zeit aus, die wir aufwenden müssen, um das Leben zu erhalten. Vorbei die Zeiten, in denen die Menschen gezwungen waren, als Jäger und Sammler tagaus tagein für den Lebensunterhalt der Sippe zu sorgen. Vorbei die Zeiten, als die Menschen Jahr für Jahr hinter dem Pflug standen und das Vieh betreuten. Vorbei die Zeiten, als der 12-Stunden-Tag in finstersten Manufakturen oder Fabriken fünf Tage die Woche den letzten Einsatz forderten. Es gehört zu den Standardfloskeln der 1. Mai-Reden, dass der moderne Mensch der Industriestaaten noch niemals zuvor soviel Zeit zur Verfügung hatte, um einerseits seinen Lebensunterhalt zu sichern und andererseits sich selbst zu erholen und zu verwirklichen. Letzteres in Nutzung der eigenen Zeit nach eigenem Gusto, eigenem Willen, eigener Notwendigkeit. Hat es das je gegeben? Oder ist das auch eine der modernen Mythen über das Leben in der Gegenwartsgesellschaft, dass jeder Mensch herrlich und in Freuden über seine persönliche Zeit verfügt und sich permanent selbst verwirklicht? 

Glaubt man den eigenen Beobachtungen unter den Zeitgenossen, dann ergibt sich ein anderes Bild. Zeit ist ein sehr rares Gut, sehr kostbar und nicht wiederherstellbar. Deshalb ist es klar, dass sie letztendlich unbezahlbar, unersetzlich ist und sorgsam geplant werden muss, will man sie nicht sinnlos verschwenden. Und man tut es am Ende möglicherweise doch, indem man seine Zeit mit Menschen verbringt, die einem die Zeit rauben, indem man Dinge tut, die keinen Nachhall haben, indem man sich für Angelegenheiten engagiert, die sich als wenig erfolgreich oder sinnvoll erweisen. Nach wie vor ist eines der schwierigsten und heikelsten Probleme der modernen Lebensführung, sorgsam und verantwortungsbewusst mit seiner Zeit umzugehen. Und weil das so ist, weil so viele Zeiträuber am Wegesrand lauern, weil die Angebote, die Zeit zu vertreiben (!), so zahlreich sind, weil die Entscheidung für etwas, was erfüllend und befriedigend sein könnte, so schwer zu treffen ist, gerade deshalb wird der Eindruck immer bestimmender, dass gar nicht genug Zeit zur Verfügung steht, um alles zu sehen, alles zu schmecken, alles zu fühlen, was aktuell im Angebot ist. Und seitdem der Himmel für die meisten Menschen auch keine Option mehr vorrätig hält, fehlt es allen Predigten an Sonn- und Feiertagen zum Trotz an dem Gefühl, ausreichend Zeit zu besitzen, um zu tun, was getan werden soll. 

Wobei diese Entscheidung derjenigen über die Verwendung immer voraus zu gehen scheint. Subjektiv ist immer klar, dass nicht genug Zeit vorrätig ist, um irgendetwas zu tun, egal was, aber der eine oder andere entscheidet sich dann doch, es zu versuchen. Dies aus Gründen, die schwer anzugeben sind.
Wenn vor 100 Jahren die Nervosität und Überspanntheit vieler Menschen ein Kennzeichen der Epoche war, dann ist es heute eher das Gegenteil. Der Mangel an Zeit oder die Vorstellung, nicht genug Zeit für das vorgenommene Pensum zur Verfügung zu haben, erhöht insgesamt das Tempo, die Drehzahl mit der die Menschen sich durch ihren Alltag fräsen und ihren Zielen hinterher eilen. Ein ständiges Gefühl der Überforderung, der Überanstrengung, der Überlastung treibt die Zeit voran und führt oft zu Überdruss und Überspanntheit, wenn es am Ende der Hatz keine ausreichenden Früchte als Belohnung zu ernten gibt. 

Burn out nennt man es auch gern, die völlige Erschöpfung ohne sinnvolle weitere Ziele, für die sich die Anstrengung lohnen würde. Auch wenn bei weitem nicht jeder vom Burn out eingeholt wird, so weiß doch jeder, was damit gemeint ist und was er aus Menschen machen kann. Jeder von uns hat ein Empfinden für das zunehmende Tempo der Themen, den überstürzten Umschlag von Inhalten, die immer aktuellen Trends und Moden, die sich ständig wandelnden sozialen Standards, die schwindende Verlässlichkeit von Rollenbeschreibungen, den raschen, oft scheinbar unmotivierten Wechsel zu neuen, anderen Ansichten und Regeln. Das Kennzeichen für den nicht enden wollenden Wettbewerb um alles, der zunehmende Konkurrenzkampf, der längst auch die privaten Bereiche erreicht hat und keine Rückzugsräume mehr übrig lässt. 

Anders als in den 70ern, als die Sorge um die Umwelt und die Zukunft der Arbeit die Menschen verunsicherte, oder anders als in den 80ern, als die Sorge vor kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa um sich griff, anders als in den 90ern und 2010er Jahren, als die Folgen der Wiedervereinigung, die Globalisierung und schließlich der globale Kampf gegen den Terror die Diskussionen beherrschten, ist das Gros der Themen heute zu einer Klärung gebracht und viele beängstigende Themen der Vergangenheit weitgehend befriedet worden. Selbst der Krieg in Afghanistan könnte bald vorbei sein, auch die Krise um den Euro hat noch keine Panik ausgelöst, innenpolitisch geht es meist um Ordnungs- und Sozialpolitik. Und doch fehlt es weit und breit an der angemessenen Gelassenheit, der lockeren Selbstgewissheit, mit der die Aufgaben der Zukunft zu meistern wären. Pädagogen mangelt es an Zeit, sich ihren Schülern zu widmen, den Mitmenschen fehlt die Zeit, sich um ihre Nachbarn zu kümmern, der Politik fehlt es an der Zeit, in Ruhe an Lösungen für die kommenden Aufgaben zu arbeiten, der Wirtschaft fehlt die Zeit, sich um die Ausgestaltung der Arbeitswelt der Zukunft zu bemühen, die Intellektuellen haben nicht die Zeit, zukunftsweisende Debatten anzustoßen, weil sie mit dem Nachvollzug der Gegenwart ausgelastet sind - immer wieder und überall fehlt die Zeit, was überdies zu dem fatalen Gefühl führen kann, immer und ewig zu spät zu sein, nicht effektiv zu sein, immer nur an den falschen Symptomen der Zeit herumzudoktern. 

Voraussetzung dafür wäre natürlich, dass gewonnene oder gesparte Zeit auch dem Individuum zugute kommt, das gewonnen und gespart hat. Das ist aber  mitnichten der Fall. Jeder, der den technischen Fortschritt der letzten 25 Jahre miterlebt hat, kann bestätigen, dass mit jeder Rationalisierung, mit jeder neuen zeitsparenden technischen Lösung die gewonnene Zeit gleich wieder reinvestiert war in die Arbeit, in das eigene Fortkommen. Arbeitser-leichterungen dank technischer Lösungen hat zu weniger unmittelbarer körperlicher Anstrengung und Erschöpfung geführt, aber nie zu mehr Zeit. Immer war sofort eine neue Aufgabe parat, zu deren Erledigung die eingesparte Zeit verwendet werden konnte. So kam das Treibrad nie zur Ruhe und die Menschen in ihm auch nicht. 

Jetzt wäre es an der Zeit, sich der tröstenden conclusio aus alledem zuzuwenden. Aber die bietet sich nirgendwo an. Gar nicht. Zwar kann man feststellen, dass die rasende Geschwindigkeit der Gegenwart richtungslos ist. Dass das zunehmende Tempo kein Ziel hat. Dass die alle erfassende Hektik ohne Ordnung bleibt - aber wie das zu ändern wäre, ist nicht bekannt. Vielleicht ist durch die Diagnose und die Thematisierung schon allein etwas gewonnen. Vielleicht kann dadurch auf Dauer ein Wandel in der Nutzung unserer Zeit und ein Wechsel in der Orientierung erfolgen. Notwendig wäre es.  Dazu sollte man sich gelegentlich einmal die Zeit nehmen.

Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

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