Donnerstag, Januar 10, 2013

Empört Euch!

Die Reconquista beginnt und keinen interessiert es. Ein Blick in die Hinterzimmer des gesunden Menschenverstandes. Während sich alle Welt über die Antisemitismus-Vorwürfe an Jakob Augstein ereifert, bahnt sich in seinem Windschatten eine völlig andere rückwärts gewandte Entwicklung an, die die Verwendung der deutschen Sprache betrifft. 

Eine Ministerin hatte völlig unbeabsichtigt (vermutlich) in einem Interview davon berichtet, dass sie ihren Kindern nicht zumuten will, in Gutenachtgeschichten mit "Negern" und "Negerlein" konfrontiert zu werden. Also werden brav aus "Negern" und "Negerlein" "Menschen mit schwarzer Hautfarbe" und aus Pippi Langstrumpfs Vater, dem Negerkönig, wird der Südsee-König. Da kam die Nachricht, dass der Verlag des Kinderbuch-Autors Otfried Preußler bereits damit begonnen hat, solche Ersetzungen und Streichungen vorzunehmen, gerade richtig. Und ebenso die Information, dass in der deutschen Übersetzung von "Pippi Langstrumpf" schon seit vier Jahren so verfahren wird. "Die Authentizität des Werkes muss der sprachlichen Weiterentwicklung" untergeordnet werden, hieß es. Muss?

Wieso eigentlich muss? In diesem Falle handelt es sich ja nicht um die Anfertigung eines Glossars, um alte Begriffe und Wendungen dem modernen Leser verständlich zu machen. Hier ist die sprachliche Weiterentwicklung genannt, aber eine aktuelle kulturelle Norm des Sprachgebrauchs gemeint. Zur sprachlichen Weiterentwicklung, so lehrt uns die moderne Sprachforschung, gehört unter Umständen auch die Akzeptanz des Einflusses gewisser Soziolekte auf den Gebrauch der deutschen Hochsprache. Das heißt also, dass etwa das allseits beliebte Kanakster-Deutsch auf Dauer einen Einfluss auf Grammatik, Wortbildung und Artikulation des Deutschen haben wird, den man durchaus als sprachliche Weiterentwicklung bezeichnen könnte. Bis wohin also reicht der Anspruch dieses Argumentes? 

http://www.spiegel.de/kultur/literatur/nach-neger-verlag-streicht-auch-wichsen-aus-der-kleinen-hexe-a-876749.html

Wann tritt der Fall ein, dass die sprachliche Weiterentwicklung vor die Authentizität des Werkes gesetzt wird? Um gleich mit der allerschlimmsten Vorstellung zu beginnen, die nur denkbar ist: Was ist mit Goethe und seinem Werk? Goethes starb 1832, Zeit genug für die deutsche Sprache, sich gehörig weiterzuentwickeln. Was also schützt den "Faust" davor, von der Entwicklung der deutschen Sprache eingeholt zu werden? Eigentlich nichts, aber in Wahrheit dann doch bisher zumindestens nur das Fehlen eines Demagogen, der sein Halbwissen und seine schiefe Weltsicht plötzlich beim Gottvater der deutschen Literatur nicht mehr bestätigt sieht, weil er ihn zum ersten Mal zur Kenntnis genommen hat. Wie kommt dieser Goethe nur dazu, von dieser Dirne Gretchen zu erzählen, die unehelich schwanger wird und zum Tode verurteilt wird? Wie kommt dieser Goethe dazu, den leibhaftigen Teufel auftreten zu lassen und allerlei Zotiges und Gotteslästerliche daher reden zu lassen?

Auf die nun zwangsläufige Frage, was denn Goethes "Faust" mit Otfried Preusslers kleiner Hexe zu tun habe, das eine sei doch hohe Literatur, das andere nur Kinderliteratur, kann man nur achselzuckend antworten: "Nix verstanden, hinsetzen." Wer so fragt, dem ist Literatur nicht wichtig und nicht nah. Wer so fragt, der weiß nicht, dass es nicht um Authentizität geht, sondern um die Integrität der künstlerischen Leistung, des Kunstwerkes: Literatur ist beides. Basta. Die Frage ist nicht, ob ein Werk der Hochliteratur (was immer das genau auch sei) zensiert, korrigiert, retuschiert werden darf, ein Werk der Kinder- und Jugendliteratur hingegen auf jeden Fall, weil es doch Erziehungszwecken diene. 

Die Frage, um die es geht, ist, wann wird der eben noch jugendliche Leser, den es galt vor Pippi Langstrumpfs Sprüchen und vor den Invektiven der kleinen Hexe zu schützen, alt genug sein, sich für Literatur zu interessieren, in der es von Blasphemie, Zoten, Unmoral und einer missverständlichen, weil alten Sprachform nur so wimmelt? Spätestens dann wird der rechtschaffene Literaturversteher völlig selbstverständlich dieselben Instrumente zur Hand nehmen und Goethe auf Linie trimmen. Oder Schiller oder Kleist oder Shakespeare oder Cervantes oder Dante. 

Es wäre eine Aufgabe der Erziehung und Bildung, Kinder und Jugendliche das Sprachgefühl und die Sprachbeherrschung zu lehren, die sie in die Lage versetzt zu verstehen, warum in einem älteren Text von "Negern" und "Negerkönigen" die Rede ist, was ein historischer Entstehungskontext ist, welche zeitlichen und gesellschaftlichen Strömungen und Gegebenheiten in einen Text einfließen und ihn am Ende zu dem machen, was er ist. 


Der Anfang von WINNETOU 1... Nicht p-c.
Wer fürchtet, dass ein literarischer Text die Sinne eines Kindes derart vernebeln kann, dass es am Ende dunkelhäutigen Zeitgenossen "Neger Neger" hinterher pöbelt, der traut seiner eigenen erzieherischen Souveränität und menschlichen Vorbildwirkung nicht über den Weg. Anhand der Verwendung eines politisch, nicht etwa literarisch nicht-korrekten Begriffes wie "Neger" wird niemand gegen Menschen dunkler Hautfarbe agitieren. Am Ende dieses Weges steht ein schwiemeliger Begriff von heiler Welt, der längst überwunden geglaubt war, steht ein Überbehütungsmodus, der dem Text seine Geschichtlichkeit und seine Wirkungskraft nimmt. Auf deutsch gesagt: Es ist ein Akt der Barbarei, der da vorgenommen wird, Bilderstürmerei im Namen des gesunden Empfindens und Menschenverstandes. Allemal Grund genug, uns eiskalte Schauer des Entsetzens über den Rücken jagen zu lassen und sich zu fragen, wofür und worum man eigentlich in den vergangenen vierzig Jahren gekämpft und gestritten hat. 

Der eigentliche Skandal jedoch ist, dass dies nicht zum Skandal taugt. Eine auf permanenten Skandalisierungsmodus geeichte (Kultur-) Journaille groovt im Empörungsmodus über die Scheidung der Familie Wulff, die Ereignisse im dschungelcamp und die ungewisse Zukunft der Zeitungen. Wie uns auf kaltem Wege, mittels einer schleichenden Reconquista die gesellschaftlichen und kulturellen Standards der letzten vierzig oder gar fünfzig Jahre wieder genommen werden, das ist derzeit kein Thema. Vielleicht ja dann, wenn der arme Karl May wegen seiner Weltsicht des späten 19. Jahrhunderts umgeschrieben wird, wenn "Tarzan - Das Musical" wegen allzu viel Freizügigkeit gekürzt wurde, wenn Arthur Schnitzler wieder auf den Index gerät - vielleicht besteht dann eine Chance der Wahrnehmung dessen, was dann verloren ist. Empört Euch! 

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