Sonntag, Januar 06, 2013

Wir sind alle Augstein ?

Oder: Die Frage, ob das Lamm den Wolf verteidigen muss.
Seit Wochen plage ich mich mit der Absicht, mein Abonnement des FREITAG abzubestellen. Immer wieder war ich wild entschlossen, es zu tun, und habe es dann aus Vergesslichkeit oder Bequemlichkeit doch nicht getan.
Als jetzt der Freitag-Verleger Jakob Augstein auf der Top 10 des Simon-Wiesenthal-Centers der weltweit gefährlichsten Antisemiten auftauchte und eine heftige Debatte darüber entbrannte, kam mir sofort der Nebengedanke, dass ich ja nun schon aus Solidarität mit dem Angegriffenen das Abo nicht kündigen könnte. Wie sähe es denn aus, und sei es auch nur vor mir selbst, wenn ich in dieser Situation, in der aus meiner Sicht völlig unhaltbare Vorwürfe gegen Augstein erhoben werden, die Kündigung absenden würde? Wäre dies nicht ein Signal, dass ich irgendwie den Vorwürfen Glauben schenke und deshalb kündige? Wäre dies nicht ein Signal der Illoyalität zu einem Publizisten, der mir bis dato mit keiner Silbe als Antisemit aufgefallen ist? Wäre es nicht ein stummes Zeichen des Einverständnisses mit denen, die den Antisemitismus-Vorwurf erheben?

Gleichzeitig sah ich mich gezwungen, mein Faible für Henryk M. Broder einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Immerhin ist dieser nach eigenem bekunden in diese Sache verwickelt und steht bereit, Augstein hin und wieder "eins auf die Schnauze" zu geben, weil er nun einmal ein "lupenreiner Antisemit" sei. Bisher hatte ich meine Sympathie für Broder so weit getrieben, dass er und sein selbst gewählter Gegner in meinem Verzeichnis von Blogs friedlich nach einander aufgelistet waren. Nun also noch ein Kandidat für einen Abschied, ein Kandidat, auf den ich in der Vergangenheit gerne und oft gesetzt hatte, wenn mir danach war, mal wieder was frischen Wind in meine eingefahrenen Gedankengänge wehen zu lassen. Der frische Wind hat sich inzwischen als laues Lüftchen herausgestellt und ich habe einen spontanen Widerwillen entwickelt, mich weiterhin davon umwehen zu lassen. Vielleicht war es intuitive Klugheit, als ich vor wenigen Tagen meine WELT-App löschte, als ich von den Vorgängen in Los Angeles, Hamburg und der Welt (Achtung, riskantes Wortspiel!) noch gar nichts mitbekommen hatte. 

Material zum Thema:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/jakob-augstein-ueber-israels-gaza-offensive-gesetz-der-rache-a-868015.html
Jakob Augstein über Israels Gaza-Offensive: Gesetz der Rache - SPIEGEL ONLINE 

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/kritik-an-israel-inflationaerer-gebrauch-des-antisemitismus-vorwurfs-a-869280.html
Kritik an Israel: Inflationärer Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs - SPIEGEL ONLINE

http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/077/1707700.pdf
Bericht im Bundestag über den Antisemitismus im Land

http://www.titanic-magazin.de/essay-augstein.html
Stefan Gärtner — Wer Juden haßt, bestimme ich | TITANIC – Das endgültige Satiremagazin

http://www.publikative.org/2013/01/04/was-hat-augstein-eigentlich-geschrieben/
Publikative.org » Blog Archive » Was hat Augstein eigentlich geschrieben?

Augsteins inkriminierte Kolumne bei SPIEGEL online heißt "Im Zweifel links." Wenn ich recht informiert bin, war dies die gleichlautende Antwort des publizistischen Ahnherren Rudolf Augstein auf die Frage, wo denn der SPIEGEL weltanschaulich stünde. Schönes Spiel das mit Zitaten und Festlegungen über Jahrzehnte hinweg, macht sich sicher gut im Familienalbum neben den Bildern vom Ausflug zu Hagenbeck, aber als Maxime mag der Spruch nicht wirklich mehr taugen, wie die Debatte zeigt. Seit dem Zeitenbruch 1989, der deutschen Wende, ist auch auf der linken Seite des politischen Spektrums nichts mehr, wie es war. Das linke Projekt hatte eine empfindliche Niederlage erlebt und hat sich von den Folgen nie wieder erholt. Rückblickend wurde deutlich, wieviel die Agitations- und Propaganda-Kader der Auslandsabteilung der Staatssicherheit am Weltbild der westdeutschen Linken gewerkelt hatten und wichtige Gruppierungen wie die Friedensbewegung unterwandert hatten. Schon vor der Wende hatte sich die Linke weitgehend selbst zerlegt und in Splittergruppen atomisiert, die Gründung und der parlamentarische Erfolg der Realo-Grünen haben bis heute dazu geführt, dass auf der linken Seite nur noch Platz für die Steinzeit-Linke blieb. Und was sich ansonsten im Zweifel links fühlte, bröckelte zusehends ab. 

Die völlig aus der Luft gegriffene Diskussion um Augsteins angeblichen Antisemitismus zeigt eindringlich, wie weit dieser Selbstzerstörungsprozess auch bei jenen schon gediehen ist, die, aus dem linken Lager kommend, noch in der Lage gewesen sind, sich zumindest in der Kunst zu behaupten, gegen den Strom zu schwimmen und selbstständig zu denken. In der persönlichen Fehde Broders gegen Augstein stecken vermutlich kleinbürgerlichste Ressentiments und persönlichste Auseinandersetzungen, anders ist die Intensität, mit der sich Broder verrennt, nicht zu erklären.

Seiner Art zu argumentieren ist es wesentlich zu verdanken, dass die Antisemitismus-Debatte mehr und mehr zu einem Gang über vermintes Gelände geworden ist. Augstein hat recht, wenn er darauf hinweist, dass die Art, wie über den Antisemitismus im Zusammenhang mit Kritik an Israel gesprochen wird, Wasser auf die Mühlen der falschen Leute ist. Unrecht hat er in der Vergangenheit gehabt, wenn er etwa Günther Grass wegen dessen Israel-Attacken verteidigte und die Bundesregierung als Befehlsempfänger Tel Avivs hinstellte. An keiner Stelle aber ist ihm nachzuweisen, er setze "die Juden" mit der israelischen Regierung gleich. Zu unterstellen, dass, wer in seiner Kritik an der israelischen Politik nur "Regierung" sage, in Wahrheit "die Juden" meine, ist so infam und abgeschmackt, wie Augsteins Einlassungen sein sollen. Mit diesem einfachen rhetorischen Trick ist jeder Satz sofort zu kriminalisieren. Ein Adorno-Zitat tut dann sein Übriges. Es lässt sich trefflich bezweifeln, ob Adorno es goutiert hätte, sich so vereinnahmt zu sehen und als Mittel zum Zweck missbraucht zu werden. Diese Vorgehensweise ist alles mögliche, nur dialektisch redlich ist sie nicht.

Zudem ist es eine intellektuelle Katastrophe, wie sich das Simon-Wiesenthal-Center in dieser Sache verhält. Die Idee, den Antisemitismus-Verdacht zu boulevardisieren mit Hilfe einer Top 10, als wenn es um eine Mischung der zehn meistgesuchten Gangster der USA und der populärsten Gründe, den Partner zu verlassen ginge, ist ein zynisches Spiel mit dem, was die echten, gefährlichen Antisemiten in der Welt anrichten. Jemanden auf die Liste zu setzen, den man offenbar gar nicht gut genug kennt, um ihn wirklich gut beurteilen zu können, geschweige denn vorzuverurteilen, ist mehr als leichtfertig und schadet unter anderem der eigenen Glaubwürdigkeit. Auf Dauer und auf Sicht. 

http://www.wiesenthal.com
Simon-Wiesenthal-Center Los Angeles

Interessant wäre es zu beleuchten, was der aktuelle Streit über die intellektuellen Lenkungskräfte in dieser Gesellschaft aussagt und auf welches Problem er tatsächlich rekurriert. Wir müssen nur aufpassen, dass der Kampf gegen die Verfassungsfeinde nicht dadurch an Schärfe und Richtung verliert, dass wir beginnen, uns alle gegenseitig zu bezichtigen. "Schon bist du ein Verfassungsfeind" hieß ein Buch von Peter Schneider von 1975. Zwanzig Jahre später bilanzierte er seine Erfahrungen als Linker in "Vom Ende der Gewissheit." Ein Buch mit bleibendem Wert. Wie man liest und hört. Das Abo des Freitag werde ich nun doch kündigen. Aber ich werde es kündigen, weil mir die redaktionelle Leistung zu unausgewogen und manches Lesestück zu platt ist. Derselbe Grund, warum ich die taz nur gelegentlich interessant finde. An Augstein werde ich auch in Zukunft die allzu große Geste bei der Beantwortung der Fragen der Zeit nervtötend finden und seine Wendigkeit beim Erkennen der Meinungstrends unlauter. Aber für einen Antisemiten werde ich ihn auch künftig nicht halten. 
Henryk Broder werde ich in Zukunft anders lesen und von der Liste meiner Empfehlungen entfernen. Filigranes ist offenbar nicht seine Sache und manchmal trägt ihn der Schwung seiner engagierten Denke locker weit aus der Kurve hinaus. 

Zum Schluss ein Zitat von Peter Schneider, der schneller und seit längerer Zeit verstanden hatte: "Die alten Fahnen und Parolen sind unbrauchbar geworden, aber die Kontrahenten führen die Händel und Zwiste von gestern mit abgebrochener Klinge fort. Wer eben noch an einigen Glaubenssätzen der Linken zweifelte, vergisst seine Zweifel unter dem Terror der naziskins; wem Wolf Biermann früher schon zu laut war, der findet ihn auch jetzt, wenn auch aus anderen gründen, unerträglich; die sich früher misstrauten, tun dies immer noch. Kaum jemand hat irgendeine Position zu revidieren, alle haben immer alles schon gewusst und auch gesagt."

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