Freitag, Januar 11, 2013

Denken, bitte. Jetzt. - Gottfried Benn

"Meinen Sie nicht, lieber Herr, dass Sie mir meine Ansichten bestätigen oder bestreiten könnten, seien Sie überzeugt, dass für mich der Consensus omnium kaum ein Kohlweißling ist, wie er über allen Bauerngärten fliegt. Falls Sie die Maximen meines Lebens hören wollen, so wären sie folgende: Erstens: Erkenne die Lage. Zweitens: rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen. Drittens: vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke.
Blase die Welt als Glas, als Hauch aus einem Pfeifenrohr: der Schlag, mit dem du alles löst: die Vasen, die Urnen die Lekythen - dieser Schlag ist deiner und er entscheidet. Viertens: nur bei Mittelmäßigkeiten greift das Schicksal ein, was darüber ist, führt seine Existenz alleine. Fünftens: wenn dir jemand Ästhetizismus und Formalismus zuruft, betrachte ihn mit Interesse. Es ist der Höhlenmensch, aus ihm spricht der Schönheitssinn seiner Keulen und Schürze. Sechstens: Nimm gelegentlich Brom, es dämpft den Hirnstamm und die Unregelmäßigkeiten der Affekte. Siebtens: Nochmals: erkenne die Lage."
Der Ptolemäer, 1949

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