Sonntag, Januar 13, 2013

Denken, bitte. Jetzt. - Harry G. Frankfurt

Zu den auffälligen Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viel Bullshit gibt. Jeder kennt Bullshit. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden. Die meisten Menschen meinen, sie seien in der Lage Bullshit zu erkennen und sich vor ihm zu schützen, weshalb dieses Phänomen bislang wenig ernsthafte Aufmerksamkeit gefunden hat und nur unzulänglich erforscht worden ist.
Das hat zur Folge, dass wir nicht sonderlich genau wissen, was Bullshit ist, warum es so viel davon gibt und welchen Zwecken er dient. Und es fehlt uns an einer gewissenhaft entwickelten Einschätzung dessen, was Bullshit für uns bedeutet.   ...    

Bullshit ist immer dann unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen. Die Produktion von Bullshit wird also dann angeregt, wenn ein Mensch in die Lage gerät oder gar verpflichtet ist, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand hinsichtlich der für das Thema relevanten Tatsachen übersteigt. Diese Diskrepanz findet sich häufig im öffentlichen Leben, in dem Menschen sich - aus eigenem Antrieb oder auf Anforderung anderer - oft gedrängt sehen, sich eingehend über Gegenstände auszulassen, von denen sie wenig Ahnung haben. In dieselbe Richtung wirkt die weitverbreitete Überzeugung, in einer Demokratie sei jeder Bürger verpflichtet, Meinungen zu allen erdenklichen Themen zu entwickeln oder zumindest zu all jenen Fragen, die für die öffentlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind. Das Fehlen jedes signifikanten Zusammenhangs zwischen den Meinungen eines Menschen und seiner Kenntnis der Realität wird natürlich noch gravierender bei einem Menschen, der es für seine Pflicht als moralisch denkendes Wesen hält, Ereignisse und Zustände in allen Teilen der Erde zu beurteilen. Die gegenwärtige Verbreitung von Bullshit hat ihre tieferen Ursachen auch in diversen Formen eines Skeptizismus, der uns die Möglichkeit eines zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität abspricht und behauptet, wir könnten letztlich gar nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind. ... 

Statt sich in erster Linie um eine richtige Darstellung der gemeinsamen Welt zu bemühen, wendet der einzelne sich dem Versuch zu, eine aufrichtige Darstellung seiner selbst zu geben. ... Es ist, als meinte er, da das Bemühen um Tatsachentreue sich als sinnlos erwiesen habe, müsse er nun versuchen, sicher selbst treu zu sein. 
Harry G. Frankfurt, Bullshit, 2005, S. 9/10, 70, 71, 73

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Liest sich schön.Aber ohne Bullshit würde keine Tageszeitung auch nur einen Tag überleben. Und dann gäbe es auch keine Grünen mehr,.... usw. Ich plädiere nicht gerade für den inkriminierten Bullshit, aber er ist nun mal der Kitt, der alles zusammenhält, was nicht zusammengehört.

Christian Klotz