Sonntag, Dezember 23, 2012

Denken, bitte. Jetzt. - Hermann Melville


Herman Melville 1819-1891
aus: Bartleby der Schreiber, 1853

Wie sich denken läßt, gehört es wesentlich zur Arbeit eines Schreibers, daß er die Richtigkeit seiner Abschrift Wort für Wort nachprüft. Wo sich zwei oder mehr Schreiber in einer Kanzlei beisammenfinden, helfen sie sich gegenseitig bei dieser Arbeit, indem einer die Abschrift vorliest, während der andere das Original vergleicht. Eine sehr öde, ermüdende und eintönige Tätigkeit, die, möchte ich meinen, für manche Menschen von sanguinischem Temperament ganz unerträglich sein muß.
Zum Beispiel kann ich mir schwer vorstellen, daß sich Byron, dieser Dichter und Feuergeist, in aller Ruhe mit Bartleby zusammen hingesetzt hätte, um ein juristisches Schriftstück von, sagen wir, fünfhundert engbeschriebenen Seiten zu kollationieren.
Dann und wann, wenn wir eilig zu tun hatten, beteiligte ich mich auch selbst am Kollationieren eines kürzeren Schriftstücks und rief dann Puter oder Beißzange zu diesem Zweck zu mir. Als ich Bartleby so praktisch hinter den Wandschirm in meiner Nähe verwies, hatte ich unter anderem auch den Zweck im Auge, mich bei derartigen rasch zu erledigenden Anlässen seiner Dienste zu versichern. Am dritten Tage wohl, an dem er bei mir war, und bevor sich noch die Notwendigkeit ergeben hatte, die von ihm gelieferten Schreibarbeiten zu kollationieren, wollte ich einen kleinen Vorgang, an dem ich eben arbeitete, rasch zu Ende bringen und rief kurzerhand nach Bartleby. Da ich es eilig hatte und begreiflicherweise daran gewöhnt war, daß meinen Wünschen sofort entsprochen wurde, hielt ich den Kopf tief über die Urschrift auf meinem Schreibpult gebeugt und streckte nur, vielleicht etwas ungeduldig, die rechte Hand mit der Kopie seitwärts aus, damit Bartleby, wenn er aus seinem Versteck hervorkäme, sogleich danach greifen und ohne den geringsten Verzug ans Werk gehen könnte.
In dieser Haltung also saß ich da, als ich nach ihm rief, und setzte ihm in aller Eile auseinander, was, ich von ihm wünschte – mir nämlich beim Vergleichen eines kleineren Schriftstücks zu helfen. Man stelle sich meine Überraschung, ich muß schon sagen meine Bestürzung vor, als Bartleby, ohne sich aus seiner Klause zu rühren, mit seltsam sanfter, fester Stimme zur Antwort gab: »Ich möchte lieber nicht.«
Ich saß eine Zeitlang stillschweigend da und versuchte mich von meiner Verblüffung zu erholen. Der Gedanke drängte sich mir auf, meine Ohren müßten mich wohl getäuscht haben, oder Bartleby habe vielleicht den Sinn meiner Worte völlig mißverstanden. Ich wiederholte mein Ersuchen, so klar und deutlich ich konnte, aber eben so klar und deutlich erhielt ich die vorige Antwort: »Ich möchte lieber nicht.«
»Lieber nicht!« wiederholte ich, sprang voller Erregung auf und durchmaß den Raum mit einem Satz. »Was soll das heißen? Sind Sie übergeschnappt? Ich wünsche, daß Sie mir dieses Blatt durchsehen helfen – hier ...!« – und damit streckte ich es ihm hin.
»Ich möchte lieber nicht«, sagte er.
Ich schaute ihn durchdringend an. Sein Gesicht war hager in seiner Gesamtheit; sein graues Auge von trüber Ruhe. Nicht die geringste Spur von Erregung schien ihn zu durchbeben. Wäre nur die mindeste Unsicherheit, Empörung, Ungeduld oder Unverschämtheit an ihm wahrzunehmen gewesen, mit anderen Worten: hätte er nur irgendwie menschlich im normalen Sinn auf mich gewirkt, so hätte ich ihn zweifellos mit allem Nachdruck aus dem Hause gewiesen. Wie die Dinge aber lagen, hätte ich genau so gut meine gipserne Cicerobüste aus dem Hause weisen können. Ich schaute ihm noch eine Zeitlang zu, wie er seine Schreiberei fortsetzte, und ließ mich dann wieder an meinem Pult nieder. Das ist ja seltsam, dachte ich. Was tat man da am besten? Aber die Geschäfte drängten, und so entschied ich mich, die Sache einstweilen auf sich beruhen zu lassen und später bei günstigerer Zeit zu regeln. Ich rief Beißzange von nebenan zu mir und hatte das Papier rasch durchkorrigiert.
Einige Tage darauf beendete Bartleby die Abschrift von vier umfangreichen Schriftstücken, der vierfachen Abschrift einer von mir beim Obersten Kanzleigericht eingeholten Zeugenaussage. Wieder wurde eine genaue Durchsicht notwendig, und da es sich um einen wichtigen Rechtsstreit handelte, war besondere Sorgfalt geboten. Im gegebenen Augenblick rief ich Puter, Beißzange und Pfeffernuß aus dem Nebenzimmer zu mir, in der Absicht, meinen vier Angestellten die vier Kopien in die Hand zu geben und selbst die Urschrift vorzulesen. Die drei hatten sich bereits in einer Reihe niedergelassen jeder sein Schriftstück in der Hand, und nun rief ich auch noch Bartleby herbei, damit er sich der interessanten Gruppe beigeselle.
»Bartleby! Rasch – ich warte!«
Ich hörte das leise Scharren der Stuhlbeine auf dem mit keinem Teppich belegten Fußboden, und gleich darauf erschien er am Eingang zu seiner Einsiedelei.
»Was ist gefällig?« sagte er sanft.
»Die Abschriften, die Abschriften«, sagte ich hastig. »Wir wollen kollationieren. Hier –« und ich hielt ihm die vierte Abschrift hin.
»Ich möchte lieber nicht«, sagte er und verschwand still hinter seinem Wandschirm.
Einige Augenblicke war ich zur Salzsäule verwandelt und stand sprachlos zuhäupten meiner sitzenden Angestelltenkolonne. Dann faßte ich mich, trat auf den Wandschirm zu und erkundigte mich nach den Gründen eines so ungewöhnlichen Verhaltens.
»Warum weigern Sie sich?«
»Ich möchte lieber nicht.«
Bei jedem anderen wäre ich nun sofort in schreckliche Wut geraten, hätte auf jedes weitere Wort verzichtet und ihn mit Schimpf und Schande des Hauses verwiesen. Bartleby aber hatte etwas an sich, was mich nicht allein seltsam entwaffnete, sondern auch, aufs wunderlichste, rührte und aus dem Konzept brachte. Ich begann ihm ins Gewissen zu reden.
»Es handelt sich um Ihre eigenen Abschriften, die wir kollationieren wollen. Ihnen selber wird damit Arbeit gespart, denn eine Durchsicht genügt dann für alle vier Exemplare. So will's der Brauch; jeder Abschreiber ist verpflichtet, daß er beim Kollationieren seiner Abschriften hilft. Ist es nicht so? Wollen Sie nicht sprechen? Antworten Sie!«
»Ich möchte lieber nicht«, erwiderte er in flötensanftem Ton. Ich hatte den Eindruck, daß er während meiner an ihn gerichteten Worte jede meiner Behauptungen sorgfältig bei sich erwog, daß er den Inhalt meiner Worte durchaus begriff und ihre zwingende Logik nicht anzufechten vermochte, daß ihn aber irgend eine vordringliche Überlegung dazu veranlaßte, dennoch die bewußte Antwort zu geben.

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