Christophe Jacrot
"Man on Broadway" 2011/2012
Eine
winterliche Nacht in einer der Mega-Cities dieser Welt. Ein Mann geht
seinen Weg allein durch die Straßen, auf dem Weg zu einem
unbekannten Ziel. Es ist ein Weg, den er schon oft gegangen ist, sein
Schritt ist nicht zögerlich, er kennt sein fernes Ziel und steuert
es selbstbewusst an.
Vielleicht
ist es eine der typischen Bars am Rande des Weges, wo die Getränke
wenig kosten, immer die richtige Temperatur haben und wo einen der
Keeper mit einem kurzen Kopfnicken begrüßt.
Die
große Stadt hat ihm schon viel abverlangt, er lebt hier zwar schon
sein ganzes Leben lang, aber die Stadt hat seinen Kampf um
Anerkennung und Erfolg nie wirklich honoriert. Zumindest sieht er
selbst das so, wenn er seinen Status mit seinen Träumen vergleicht,
die er als junger Mann hegte. Heute, mit Ende 30, ist die Stadt noch
immer ein großes Abenteuer für ihn, das ihn immer wieder lockt und
abstößt. So viele Abende und Nächte saß er allein in einer Bar,
einem Restaurant oder fuhr im Auto ziellos herum, immer mit dem
nagenden Gefühl der Unruhe in sich, die ihn weitertrieb und
weitertrieb. Er wusste inzwischen, dass er auf dem besten Weg war,
ein Teil jener anonymen Masse zu werden, die er seit seinen
Kindertagen so fasziniert und angewidert beobachtet hatte.
Deshalb
liebte er den Fußweg zu seiner Bar, vorbei an den anderen Kneipen
und Tränken, den Taxiständen und Pornokinos, den Imbissbuden und
dunklen Hinterhöfen. Hier war er um diese Zeit allein, hier ging man
eigentlich nicht allein zu Fuß, ein Mann allein erregte gewöhnlich
Verdacht und begab sich in Gefahr. Er aber meinte damit umgehen zu
können und empfand einen ungeheuren, unbestimmten Stolz, sich stark
und sicher durch die nächtlichen Straßen bewegen zu können.
Manchmal
blieb er am Anfang der Straße stehen, um die Tiefe der Perspektive
zu genießen, die Lichter, die Farben, die Geräusche der nächtlichen
Kulisse seiner Stadt. Es waren nicht seine Farben, nicht seine
Lichter, sie galten ihm, ja, aber sie waren nicht für ihn da. Er
lebte nicht in ihnen, wie in einer schönen Kulisse, die danach
verlangte, fotografiert zu werden, sondern hatte immer noch das
Gefühl, sich ihnen vorsichtig nähern zu müssen, einen Blick
dahinter werfen zu wollen wie ein Tourist. Und doch kam keine andere
Stadt für ihn in Frage.
Diese
Stadt verlangte, er solle sich auf sie einlassen, nicht umgekehrt.
Diese starke, unbeugsame, rücksichtslose Stadt, die hinter ihren
Lichtern verschwand, wie die Menschen, die sich in ihre Häuser,
Wohnungen und Geschäfte, Hinterzimmer und Studios zurückgezogen
hatten, Menschen mit ausdruckslosen, erschöpften Gesichtern, die mit
ihm schwiegen, wenn er mit ihnen in der Bar saß und mit ihm
Erinnerungen teilten, die er nicht kannte und nach denen er sie nie
fragen würde. Diese Ausflüge in die Nacht waren seine Streifzüge
in ein anderes, mögliches Leben, viele andere mögliche Leben. Am
nächsten Tag erzählte er Freunden von seinen Erlebnissen und er
erzählte davon, wie von Expeditionen an den Rand der Welt. Und nun
geht er den Lichtern entgegen, als wolle er sich von ihnen
verschlingen lassen. Über den Heimweg macht er sich keine Gedanken.
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