Dienstag, Dezember 11, 2012

Was ist drin für mich? - Fotos & Stories 2



Christophe Jacrot 
"Man on Broadway" 2011/2012

Eine winterliche Nacht in einer der Mega-Cities dieser Welt. Ein Mann geht seinen Weg allein durch die Straßen, auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel. Es ist ein Weg, den er schon oft gegangen ist, sein Schritt ist nicht zögerlich, er kennt sein fernes Ziel und steuert es selbstbewusst an.
Vielleicht ist es eine der typischen Bars am Rande des Weges, wo die Getränke wenig kosten, immer die richtige Temperatur haben und wo einen der Keeper mit einem kurzen Kopfnicken begrüßt. 
Hier geht ein Mann schon einmal verloren, wenn er es nicht schafft rechtzeitig den Weg nach Hause anzutreten. Dort aber erwartet ihn nur die von der Putzfrau aufgeräumte leere Wohnung mit dem ewig gleichen Muster von Aufgeräumt-sein und Ordnung. Er hat sie heute Abend hinter sich gelassen und geht nun einen kurzen Weg allein, weg vom Taxi, das ihn herbrachte, und ohne Mantel trotz der Kälte, weil er hofft, heute früher als sonst den Absprung zu schaffen.
Die große Stadt hat ihm schon viel abverlangt, er lebt hier zwar schon sein ganzes Leben lang, aber die Stadt hat seinen Kampf um Anerkennung und Erfolg nie wirklich honoriert. Zumindest sieht er selbst das so, wenn er seinen Status mit seinen Träumen vergleicht, die er als junger Mann hegte. Heute, mit Ende 30, ist die Stadt noch immer ein großes Abenteuer für ihn, das ihn immer wieder lockt und abstößt. So viele Abende und Nächte saß er allein in einer Bar, einem Restaurant oder fuhr im Auto ziellos herum, immer mit dem nagenden Gefühl der Unruhe in sich, die ihn weitertrieb und weitertrieb. Er wusste inzwischen, dass er auf dem besten Weg war, ein Teil jener anonymen Masse zu werden, die er seit seinen Kindertagen so fasziniert und angewidert beobachtet hatte.
Deshalb liebte er den Fußweg zu seiner Bar, vorbei an den anderen Kneipen und Tränken, den Taxiständen und Pornokinos, den Imbissbuden und dunklen Hinterhöfen. Hier war er um diese Zeit allein, hier ging man eigentlich nicht allein zu Fuß, ein Mann allein erregte gewöhnlich Verdacht und begab sich in Gefahr. Er aber meinte damit umgehen zu können und empfand einen ungeheuren, unbestimmten Stolz, sich stark und sicher durch die nächtlichen Straßen bewegen zu können.
Manchmal blieb er am Anfang der Straße stehen, um die Tiefe der Perspektive zu genießen, die Lichter, die Farben, die Geräusche der nächtlichen Kulisse seiner Stadt. Es waren nicht seine Farben, nicht seine Lichter, sie galten ihm, ja, aber sie waren nicht für ihn da. Er lebte nicht in ihnen, wie in einer schönen Kulisse, die danach verlangte, fotografiert zu werden, sondern hatte immer noch das Gefühl, sich ihnen vorsichtig nähern zu müssen, einen Blick dahinter werfen zu wollen wie ein Tourist. Und doch kam keine andere Stadt für ihn in Frage.
Diese Stadt verlangte, er solle sich auf sie einlassen, nicht umgekehrt. Diese starke, unbeugsame, rücksichtslose Stadt, die hinter ihren Lichtern verschwand, wie die Menschen, die sich in ihre Häuser, Wohnungen und Geschäfte, Hinterzimmer und Studios zurückgezogen hatten, Menschen mit ausdruckslosen, erschöpften Gesichtern, die mit ihm schwiegen, wenn er mit ihnen in der Bar saß und mit ihm Erinnerungen teilten, die er nicht kannte und nach denen er sie nie fragen würde. Diese Ausflüge in die Nacht waren seine Streifzüge in ein anderes, mögliches Leben, viele andere mögliche Leben. Am nächsten Tag erzählte er Freunden von seinen Erlebnissen und er erzählte davon, wie von Expeditionen an den Rand der Welt. Und nun geht er den Lichtern entgegen, als wolle er sich von ihnen verschlingen lassen. Über den Heimweg macht er sich keine Gedanken.


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