Sonntag, Juni 03, 2012

Die Wahrheit liegt auf dem Platz und den Plätzen


 Liebe Fußballfreunde, liebe mit mir in der Zuneigung zum Fußballspiel verbundene Landsleute,


G. Altmann/pixelio.de
vor welch schönen Tagen stehen wir doch heute! Nur noch wenige Tage, ja Stunden, bis zum ersten Anpfiff der Spiele um die Europameisterschaft 2012 in Polen. Und nur wenig Stunden mehr bis zum ersten Auftritt der deutschen Nationalelf. Auch wenn die letzten zwei Übungsspiele nicht so besonders attraktiv und erfolgreich verlaufen sind, auch wenn der ein oder andere unter uns noch gelegentlich an wenig erfolgreiche Phasen der Saison erinnert wird, auch wenn das Verletzungspech gnadenlos zuschlägt und die besten Spieler ereilt - wir freuen uns allesamt schon solange auf dieses Turnier, dass wir uns davon nicht die Vorfreude verderben lassen wollen. Und dann, nach dem Anpfiff und nach dem ersten Spiel werden wir entscheiden, wie es mit unserer Freude und mit unserem Team weitergeht. Wir denken auch da nur von Spiel zu Spiel, so geht ein viel genutzter Fußballerspruch, und stellen uns auf die jeweils neue Situation ein.

Kurz und gut: Die deutsche Mannschaft hat sich einen phantastischen Ruf als spielstarke, kreative, zu rauschhaft schönem Spiel befähigte Truppe erspielt. Davon zehren wir noch heute, obwohl das letzte dieser Spiele schon mehr als ein halbes Jahr zurückliegt, im Fußballerleben also mehr als eine halbe Ewigkeit. Aber nicht nur der ungewisse aktuelle Leistungsstand der Löw-Buben lässt leise Zweifel bei dem einen oder anderen aus dem Fanlager zu. Die politischen Umstände im Land des zweiten Veranstalters, der Ukraine, sind alles andere als vorzeigbar und akzeptabel. Die totale Dominanz des europäischen Fußballverbandes UEFA bei der Organisation und Inszenierung der Spiele wird auch ihren Teil dazu beitragen, dass uns auf dem Bildschirm der totale Fußball geboten werden soll, den wir uns auf dem Platz alle nur wünschen können. Und dann werden da auch wieder diese Kommentatoren und Moderatoren der öffentlich-rechtlichen Sender sein, die unsere sportliche und mitmenschliche Geduld und Toleranz wieder auf eine harte Probe stellen werden.
Im Ergebnis werden dort die politischen Probleme vor Ort auf einen mehr folkloristischen Aspekt heruntermoderiert werden, der eine oder andere Ansatz einer kritischen Bemerkung dürfte dann so hinmoderiert werden, dass der Zuschauer nicht auf die Idee kommen kann, er wohne hier nicht einem Fußballspiel, sondern einer Demonstration für Menschen- und Bürgerrechte bei. 

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Denk- und Sprechverbote zum Sommermärchen?

Es kommt einem Fußballfans nur schwer über die Lippen, aber die Vergabe der Spiele in die Ukraine war ein Fehler und ist derzeit mit nichts wieder aus der Welt zu schaffen, auch wenn die Sender ihre Edelkommentatoren einfliegen und vernünftige Sätze zur Lage der Dinge im Land in die Kameras sprechen lassen. Aber es wäre natürlich auch verfehlt, von den meist harmlosen Fernsehleuten zu erwarten, dass sie gutmachen sollen, was Fußballfunktionäre Jahre zuvor falsch gemacht haben. 
Noch ungeeigneter sind die Spieler, von denen möglicherweise Statements erwartet werden von politischer Eindeutigkeit und popkultureller Schönheit, auf dass man ganzseitige Bilder drucken könnte vom Rebellen, vom Individualisten, der sich weder auf dem Platz noch neben dem Platz den Mund oder das Denken verbieten lässt. Im Gegenteil, wenn als einziger ein Spieler wie Philipp Lahm öffentlich Stellung bezieht, wirkt dies wie kalkuliert und dem eigenen Image geschuldet, aber nicht wie eine logische Stellungnahme eines selbstbewussten Bürgers, der von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch macht. Prompt wurde er ja von seinen Vereinsoberen dafür gerüffelt. Und damit waren die wahren Verhältnisse gleich wieder zurecht gerückt. Erwachsenen Männern in der Blüte ihrer Jugend kann man so also kurzerhand Denk- und Sprechverbote erteilen, weil sie einen Vertrag als Kicker unterschrieben haben. Der Fußball erweist sich mit Verweis auf das Arbeitsrecht als der Hort des nach wie vor autoritären Denkens, der er früher war. 
Und wir werden gezwungen, Diskussionen zu führen, die wir gesellschaftspolitisch und in unserer eigenen Biographie vor zwanzig, dreißig Jahren beendet haben. Diskussionen über freie Meinungsäußerung, Zivilcourage, Demokratieverständnis, Freiheit... 


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Nationaler Stolz oder schiere Begeisterung?

Was uns dann auch gleich zu einem weiteren Aspekt der Fußballfreude bringt. Der Frage nämlich, ob man mit der Begeisterung für die Spiele der deutschen Nationalmannschaft auch mehr Nationalstolz entwickeln und zeigen dürfe. Die Gegenfrage konnte lauten: Wer stellt eigentlich diese Frage? Warum wird diese Frage gestellt? Ist denn das Schwenken der Deutschlandfahne im Stadion oder das Anbringen derselben am Auto ein Akt von Nationalstolz? Oder nicht doch eher ein Bekenntnis zum Team, das die deutschen Farben trägt? Nimmt man das Desinteresse des gemeinen Fußballfans an politischen Sachverhalten einmal mehr als gegeben hin, macht es wenig Sinn, ihm das zeigen und tragen der Farben als politische Demonstration zuzuschreiben. Demjenigen, der insistierend diese Frage stellt, darf man getrost unterstellen, dass er in die eine oder andere Richtung ein Interesse an der Folgerung haben könnte, dass 100.000 deutsche Nationalisten zu den Spielen reisen. Wer diese Frage nicht stellt, läuft auch nicht Gefahr, eben denen, die meinen, Nationalismus demonstrieren zu müssen, eine Bühne zu bieten. 

Ebenso sinnlos wäre eine Beschreibung der Nation als eine im Ausnahmezustand, sollte das Team die hochgestellten Erwartungen sportlich tatsächlich auch nur annähernd erfüllen. Persönliche und gruppenpsychologische Bedürfnisse und Mechanismen kommen da eher zum Tragen, im Falle des Misserfolgs wird sich jeder Fan spätestens daran erinnern, dass Lahm und seine Männer nicht das Schicksal Deutschlands in Euroland oder nach der Energiewerke verspielt haben.
Die Begeisterung für das Sommermärchen 2006 hat zum Glück seine Langzeitwirkung nur in die Richtung gehabt, dass wir nun wissen, dass wir nicht mehr die Knobelbecher-Träger und Ärmelschoner-Träger unserer weniger glorreichen Vergangenheit sind. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land hat uns Deutsche gelehrt, wie man sich gemeinsam landesweit eine gute Zeit machen kann und welche inspirierende stärkende Kraft in diesen gemeinsamen Erlebnissen bei Großereignissen liegen kann. Wobei das entscheidende Quäntchen Bedeutung rückblickend darin lag, wie am Ende die Enttäuschung nach dem verlorenen Halbfinale überwunden und verkraftet wurde. Auch da half die Gemeinschaft und die wechselseitige Verbundenheit im Erleben. 

Schaffen wir das 2012 auch wieder? Werden wir ein mögliches Scheitern beim Griff nach den Sternen sportlich fair hinnehmen können, ohne der Mannschaft schlimmste Dinge an den Hals zu wünschen oder den Untergang des Vaterlandes zu beschwören, wie es 2000 und 2004 geschah? Es ist ein gutes Zeichen, dass die unselige satirische Ineinssetzung von Leistungen der Mannschaft mit der jeweils herrschenden Regierung in dem Augenblick ihr Ende fand, als die Mannschaft begann, einen begeisternden Sport zu zeigen. So konnte man bestenfalls das Auseinanderklaffen der jeweiligen Erwartungshaltung und Leistungsfähigkeit im Fußball und in der Politik feststellen. Allerdings bliebe dies in der Rückwirkung für beide Seiten völlig bedeutungslos, so dass man es getrost unterlassen darf. 

Wahrer Fan und guter Bürger

Dem wahren Fan und guten Bürger dürfte die Verquickung von Sport und Politik ohnehin gegen den Strich gehen, zumindest schon mal dort, wo der Sport mit seinen Festen und Erfolgen Bühne und Trittbrett für Politiker bieten soll. Auf diesem Hintergrund war es auch gut, dass der verweigerte Handschlag von Bastian Schweinsteiger für den Bundespräsidenten nach dem verlorenen Champions League Finale keine weitere Würdigung in den Medien erfahren hat und so keinerlei symbolische Bedeutung zugeschrieben wurde. Der wahre Fan und gute Bürger weiß, dass im Stadion gemeinhin keine politischen Fragen beantwortet werden und dass im Bundestag andere Regeln als Freistoß und Elfmeter gelten. Man sollte ihm deshalb auch nicht aus Gründen der Unterhaltung suggerieren, dass es möglicherweise anders sei. Es ist nicht anders, das steht heute schon fest und wird sich durch kein Spiel der Geschichte je ändern. Wer das Gegenteil behauptet, versteht nichts von Sport und Politik.

Halten wir also fest: Wir freuen uns auf ein Fußballfeld im Juni 2012. Wir bleiben empört und politisch oppositionell gegenüber jedweder Verletzung der Menschenrechte in der Ukraine. Wir werden uns nicht als Fahnen schwenkende nützliche Idioten vor den Karren irgendeines nationalistischen Dummfugs spannen lassen und lassen uns nicht unterstellen, dass unsere Begeisterung für den schönen Fußball etwas mit den Verdiensten der politisch Verantwortlichen im Lande zu tun hätte. Und wir wissen, dass wir nach dem Finalspiel der Europameisterschaften immer noch einen Haufen Arbeit in den Parlamenten in Berlin und Brüssel vor uns liegen haben, die mit den Mitteln des 4-4-2-1-Systems nicht zu lösen waren. Griechen (Europameister 2004), Italiener (Weltmeister 2006) und Spanier (Europameister 2008, Weltmeister 2010) können davon ein Lied singen... 
Eingedenk der Tatsache, dass der nächste Gegner immer der schwerste ist, bereiten wir uns auf vier Wochen sportlichen Ausnahmezustands vor, voller Freude über überraschende Ergebnisse und gelungene Spielzüge und Tricks, voller Ärger über verfehlte Kommentare und eitle Selbstdarstellungen am Spielfeldrand. Oder wie es Adi Preißler einst auf den Punkt brachte: "Grau ies alle Theorie.. Wiechtich ies auf'm Platz!" Demonstrieren werden wir auf den Plätzen.

Freundliche Grüße

Walter Ruß

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