Mittwoch, Juni 06, 2012

documenta mon amour - ex interim


Ehemalige und aktuelle Kuratoren der documenta.
Foto: Agenzia Fotogiornalistica Reporters/doc13
"Selber denken macht schlau."
Kasseler Einsicht
Marcel Reich-Ranicki pflegte ehedem sein literarisches Quartett mit dem abgewandelten Brecht-Zitat zu beenden „Und so sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Wie Recht er doch hatte mit seinen unterhaltsamen Streitgesprächen über aktuelle Neuerscheinungen des Büchermarktes. Während er und seine Mitstreiter ihre Argumente ex post formulierten, nachdem die Bücher erschienen und die Lektüre erfolgt war, gehört es im Gegensatz dazu jedoch zum Ritual der documenta, dass möglichst viele Experten möglichst viel schon ex ante wissen, bevor man genau weiß, wer zur Liste der eingeladenen Künstler gehört, welche Orte ausgewählt werden sollen und wie die Kunstwerke am Ende präsentiert werden.

Was dabei entsteht, ist ein immer wieder auf's Neue sehr unterhaltsames kommunikatives Rauschen landauf-landab in den interessierten Kreisen. Auch wenn die derzeitig verantwortliche Leiterin öffentlich bekannte, sie wisse nichts von Marketing, das interessiere sie auch gar nicht, käme auch sie am Ende nicht umhin zuzugeben, dass das Ballyhoo im Vorfeld der Ausstellung dem öffentlichen Interesse gut tut. Natürlich nicht den künstlerischen Hervorbringungen, die können völlig losgelöst von allem Blätterrauschen und Senderraunen entstehen und ihre Botschaft in die Welt entsenden. Das Ballyhoo allerdings verbreitert die Basis, auf der sie dies tun, erhöht das allgemeine Interesse, zumindest für eine Weile und erhöht den Wirkungsradius, um wie viel allerings ist wohl nicht zu sagen.

 Foto: Nils Klinger/d13
Rabulistisch-tautologische Logik des Marketings
Nun will es die rabulistisch-tautologische Logik des Marketings aber, dass es das Gegenteil von Marketing, gewissermaßen ein Nicht-Marketing, nicht geben kann. So wie man nicht nicht-kommunizieren kann, kann man nicht kein Marketing betreiben. Es ist dies gewissermaßen ein Spiel von Angebot und Nachfrage, die einander bedingen und beeinflussen. Im Falle der documenta ist die Nachfrage nach Informationen und Austausch darüber immer riesengroß, so dass die Nachfrage selbst dann bestehen bleibt, wenn die Kuratoren sich komplett der Befriedigung dieser Nachfrage verweigern würden (was sie so oder so nie tun!). Obendrein geriete diese Artder Verweigerung von kommunikativem Marketingverhalten schnell in den Ruch, selbst eine Art von Performance zu sein, eine Art Umsetzung des Vertrauens auf die Wirkmächtigkeit der Kunst in Kunst, in Marketing, in Marketing als Kunst, in Kunst als Marketing.

Das macht es also so einfach wie so schwer, Marketing für die documenta zu machen. Man muss nur Erwartungen gezielt unterlaufen, den gängigen Klischees der documenta-Experten widersprechen, um ein ungeheures Maß an Aufmerksamkeit zu erregen. Alle documenta-Kuratoren haben dies absichtlich oder unabsichtlich gemacht und so für Skandale und Skandälchen im Vorfeld gesorgt. Und die Geschichte der Verbreitung dieser Skandale und Skandälchen zeigt, dass die neuen Medien von heute überhaupt nicht erfunden werden müssten, um die Verbreitung der Stories zu gewährleisten. Das hat das analoge Zeitalter auch schon gekonnt. Sehr gut sogar.
So lässt sich die Chronologie der documenta-Ausstellungen wenigstens in die zwei Phasen der Diskussionen vor und während der 100 documenta-Tage teilen. Während es in der ersten Phase vor allem darum geht, im Vorfeld der Ausstellungseröffnung möglichst viele Vorabinformationen zu gewinnen und vertrauliche Einblicke in die Planungsarbeiten der Kuratoren zu bekommen, kommt es ab dem Tag der Eröffnungspressekonferenz darauf an, die präziseren, geistesgegenwärtigeren, die klügsten und einfühlsamsten Kritiken zu schreiben. Dann lassen sich die Einlassungen der Kuratoren scheinbar an der Realisierung der Ausstellung messen und die Genauigkeit des Plans, die Tiefe der Gedanken und die Präzision bei der Verfolgung des angekündigten Konzeptes diskutieren. Was allerdings in der einen wie in der anderen Phase dabei herauskommt, ist nichts im Vergleich zu dem, was die documenta erst zur documenta macht: Kunst. 

Reden über Kunst
Das Reden über Kunst ist keine. Dieser Satz dürfte feststehen. Das Reden über Kunst dient der Vorbereitung und Verständigung über Inhalte und Gehalte, Ziele und Werte, Bedeutung und Grösse. Als solches ist der Diskurs notwendig und wichtig, vielleicht sogar gelegentlich erhellend und aufklärerisch. Für den Ausstellungsbesucher ergibt sich jedoch immer wieder die Situation, dass die eigene Konfrontation mit dem Werk völlig vor die Interpretation und Rezension tritt. Egal, wie man die künstlerischen Produkte bezeichnet, wie man sie einordnet, welchen Rang man ihnen grundsätzlich zugestehen will, in jedem Fall ergibt die direkte, die persönliche Auseinandersetzung mit seiner Präsenz eine völlig andere Situation als die Verfolgung des Diskurses.

In diesem Augenblick wird deutlich, wie wenig hilfreich all die theoretischen Skizzen und geistesgeschichtlichen Abhandlungen sind, die der Ausstellung eine Struktur, der ausgestellten Kunst ihre Bedeutung zuweisen sollen. Am Ende beweist sich, dass die theoretische Kategorisierung und kunsthistorische Einordnung vor der Kraft des Kunstwerkes zurückbleibt. Und da kein Künstler seine Kunst im Verständnis schaffen dürfte, einer von vielen zu sein, vielleicht auch noch Teil einer Bewegung zu sein, sondern auf seine individuellen Fähigkeiten vertraut, quasi den Extrakt aus unser aller Zeitgenossenschaft auf eine ganz eigene kreative Weise zu destillieren, wirken alle theoretischen Versuche verglichen damit zunächst so leblos und verfehlt.

Allerdings sind sie als Erweiterung der Kunst, als Ergänzung und Fortsetzung, als Versuch, das Werk aus Metall, Farben, Holz oder Wasser in der Sprache noch einmal aufleben und entstehen zu lassen und in den kommunikativen globalen Austausch einzureihen, wiederum eine gänzlich andere Disziplin, die ihre ganz und gar eigene Faszination besitzt. Und die in diesem Sinne selbstverständlich auch ihre eigene Existenzberechtigung hat. Auch daran besteht kein Zweifel. 
Die Eröffnung der documenta 13 wird zunächst wie die Befreiung von einer schweren Bürde wirken. Wenn der Vorhang sich hebt und den Blick auf die ausgestellten Werke frei gibt, ist alle Diskussion und aller Dissens unwichtig. Denn dann muss die Kunst sich der härtesten Auseinandersetzung stellen: Der mit dem sie betrachtenden Menschen, die vielleicht Erwartungen an sie stellen, die Fragen an die Kunst haben, die sich vielleicht ihrer eigenen Zeitgenossenschaft mit dem Künstler und den anderen Menschen in der Ausstellungshalle versichern möchten oder vielleicht auch die Unmöglichkeit von moderner Kunst in diesen Zeiten beweisen wollen. Nichts ist spannender und ergreifender als dieser erste Schritt auf die Kunst zu, diese Annäherung an die Fragen und Antworten, die die Künstler haben, die Versuchsreihen, die Teil der Ausstellung sind, die Provokationen, die Behauptungen, der Unsinn, die Fehlschläge.

Im Angesicht des Kunstwerks ist der Betrachter autonom und völlig bei sich, wenn er nicht der Versuchung erliegt, seine eigene Kennerschaft und Kompetenz dem verordneten Mainstream unterzuordnen. Dann allerdings dürfte ihn die Kunst nicht genug berührt haben, nicht wirklich bewegt haben, um sie sich selbst anzueignen und geistig in Besitz zu nehmen. Denn das ist die documenta, wie jede andere Ausstellung, auch: Ein Basar der intellektuellen Möglichkeiten, ein Kaleidoskop der Perspektiven und Betrachtungen, das Tohuwabohu der Meinungen und Erkenntnisse. Selten wird einem so deutlich die Bandbreite der intellektuellen Möglichkeiten sinnlich nachfühlbar vor Augen geführt wie in den Ausstellungsräumen und -anlagen der documenta. 

Kann die documenta gar nicht scheitern?
Kann die documenta also gar nicht scheitern? Kann sie zum Fehlschlag werden? Gemessen an den vorformulierten Zielsetzungen eines Kurators bestimmt. Gemessen an den freien Assoziationsmöglichkeiten des Betrachters, auch des professionellen Betrachters, eigentlich nicht. Sie ist dann etwas Anderes, als das, was angekündigt war, aber sie ist auf keinen Fall nichts. Sie ist auf jeden Fall etwas, was anregt und herausfordert, manchmal schmerzhaft, manchmal banal. Fast wie im richtigen Leben. Ob die Herausforderung nun am Ende langweilt oder anstrengt, ist nebensächlich, denn eine Herausforderung muss immer erst angenommen und gemeistert werden. Wer die documenta als Herausforderung versteht und nicht Kunst-Welt-Volkshochschule mit Sprechchören und Denkverboten, der wird sich immer wieder auf die documenta freuen und über die documenta freuen, auch wenn sie ihn ärgert. Wenn es die documenta nicht gäbe, müsste man sie kurzerhand erfinden. 
Wenn sich also der Vorhang hebt, sind wir nicht betroffen, sondern im höchsten Maße angeregt, die offenen Fragen auf der Bühne zu entschlüsseln und zu beantworten. Lasst uns reden und daran arbeiten, möglichst wenig Fragen unbeantwortet zu lassen, wenn der Vorhang sich wieder senkt, und möglichst viele neue Fragen in die Zeit danach mitzunehmen. Ex ante, ex interim, ex post.
P.S.: Verständige Grüße an Frau Christov-Bakargiev und Herrn Reich-Ranicki!

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