Dienstag, Dezember 18, 2012

Fernsehen & Gernsehen

60 Jahre Tagesschau in der ARD. Herzlichen Glückwunsch. Herzlichen Glückwunsch an einen der letzten Dinosaurier einer längst vergangenen Epoche. Es war die Zeit der Nierentische, der Wiederbewaffnungsdiskussion, der Vor-Gleichberechtigung, des Cor-Rock'n'Roll, des beginnenden Wirtschaftswunders - eine Zeit, die denen, die sie als junge Menschen erlebt haben noch kalte Schauer über den Rücken jagt, ob der damals herrschenden Enge und Kleingeistigkeit wenige Jahre nach der größten Katastrophe, die je von deutschem Boden ausgegangen ist, dem Zweiten Weltkrieg.
Eine Zeit aber auch, die denen, die sie schon als Erwachsene und Überlebende erlebt haben, als letzte Momente einer Welt in Erinnerung geblieben ist, die sich an ihre Moralvorstellungen und bürgerlichen Überzeugungen klammerte, die sie wenige Jahre zuvor nicht hatten davon abhalten können, den falschen Propheten des Untergangs nachzulaufen. Heile Welt, in der sich Gut von Böse noch leicht unterscheiden ließ, in der der Traum von einem besseren Leben etwas mit Natur und Einfachheit zu tun hatte, in der Tugenden wie Fleiß, Tüchtigkeit und Disziplin das Rüstzeug für ein ganzes Leben zu liefern schienen.
In dieser Zeit schien es geboten, im neuen Medium Fernsehen ein Informationsangebot zu schaffen, das objektiv, unabhängig und aktuell von allen Punkten dieser Erde berichten sollte. Man hatte nach 1000 Jahren der Indoktrination endlich die Welt wieder entdeckt und beeilte sich, seinen Platz an der Sonne zu finden, den Kaiser Wilhelm schon mehr als 40 Jahre zuvor versprochen, aber nicht gefunden hatte. Das Massenmedium Fernsehen, in den fernen USA bereits erprobt und sehr viel weiter in seiner Entwicklung, sollte wie die mit britischen und amerikanischen Lizenzen erschienen Tages- und Wochenzeitungen, dazu dienen, den Deutschen die Provinzialität und geistige Enge auszutreiben. Die Tagesschau entwickelte sich in den nächsten Jahrzehnten zu einer Institution des Fernsehens, die den Alltag der Menschen prägte und das gute Gefühl der Informiertheit vermittelte. Tagesschau-Chefsprecher Karl-Heinz Köpcke wurde zu einer Autorität, die niemals den Fehler beging, sich aus ihrer Rolle zu entfernen und so den Abstand zum Publikum immer gleichbedeutend groß hielt. Die Tagesschau war die Welterklärungsmaschine um 20 Uhr in jedem Haushalt. Damit wurde der gesetzliche Auftrag der informationellen Grundversorgung mehr als erfüllt, die Nachrichten der Tagesschau lieferten Abend für Abend die Welterklärungsformel, nach der es den Zuschauer verlangte.
Das deutsche Fernsehen, und auch sein Flaggschiff, die Tagesschau, erfüllten einen Informations- und Bildungsauftrag, der von niemandem, auch nicht den anderen Instanzen der Volksbildung und - erziehung, Schule, Kirche, Kultur, infrage gestellt wurde. Wer sich vor den Fernseher setzte, der musste sich bequemen, sich auf die Hochsprache der gebildeten Schichten einzulassen, der musste zur Kenntnis nehmen, dass selbst der erste Fernsehkoch, Clemens Wilmenrodt, mit weißem Oberhemd und Krawatte unter der Küchenschürze kochte, der nahm zur Kenntnis, dass die lustigen Showmaster und Quizonkel wie aus dem Ei gepellt auf dem Bildschirm erschienen und einen Wissens- und Bildungsschatz abfragten, der völlig unhinterfragt akzeptiert wurde. Auf dem Bildschirm wurde dem staunenden Publikum gezeigt, wie der anständige Bürger werktags wie sonntags auszusehen und sich zu benehmen habe. Mägerlein, Kulenkampff, Frankenfeld, Köpcke und all die anderen verkörperten das Idealbild des ordentlichen, adretten, eleganten Bürgers, der Manieren hatte, sich zu benehmen und zu unterhalten wusste und vom Scheitel bis zur Sohle ein Kavalier und Gentleman war. Der Zuschauer erhielt täglich eine kostenlose Lektion in tadellosem Auftritt, untadeliger Contenance und mustergültigem Erwachsensein. Und er bedankte sich, indem er seine TV-Helden verehrte, wenn er sich in ihnen wieder erkannte, Familie Schölermann, die unverbesserliche Familie Scholz oder die Familie Hesselbach. Es war ein Wechselspiel der Werte zwischen Zuschauer und Darsteller/Moderatoren, sieh her, ich bin wie Du und wie Du bist, so ist es gut und richtig. Ein sich selbst bestätigendes System, wenig Selbstkritik, ganz eins mit sich selbst und sich seiner Werte von Anstand, Wohlerzogenheit und Gutbürgerlichkeit sehr bewusst. Die besonderen Umstände, die man sich auch am Wochenende im trauten Heim machte, wenn "der Kuli oder der Frankenfeld kamen", gedeckter Tisch, Flips, Bier, Schnittchen etc etc taten ihr Übriges, um die Menschen vor und hinter der Mattscheibe miteinander zu verbinden.
Dreißig oder vierzig Jahre später findet sich davon keine Spur mehr. Das Fernsehen ist nach wie vor eines der wichtigsten Medien in deutschen Familien, aber sein Stellenwert als sozialer Sammelpunkt und moralisch-bürgerliche Lehranstalt ist dahin. Wo ehedem der Zuschauer vom Fernsehschaffenden lernte und kopierte, ist es heute gerade umgekehrt. Es gibt keinen allgemein verbindlichen Kodex mehr, der das Fernsehereignis zu einem Gemeinschaftserlebnis in der Familie machen würde. Der Maßstab anhand dessen die Authentizität und Wahrhaftigkeit des Fernsehens gemessen werden, ist die Nähe zum Publikum, Nähe bis hin zur virtuellen Verschmelzung in der perfekten Kopie und Simulation des Lebens vor der Scheibe, beziehungsweise vor dem HD-Schirm. Wenn der Zuschauer sich im Jahre 2012 vor den Fernseher setzt, dann möchte er nicht über richtiges Verhalten und Benehmen belehrt werden, sondern möchte den Eindruck vermittelt bekommen, dass er gerade so, wie er ist, in die Sendung eingreifen könnte, ohne dass es zu Störungen oder Irritationen im Ablauf kommen würde. Die alltägliche Welt des Zuschauers ist das Maß, nicht das idealisierte Bild einer tugendhaften, rechtschaffenen Bürgerlichkeit. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich dem Publikum weitgehend angepasst und spiegelt es am liebsten in seinen nachlässigen Lebensregungen und anstrengungslosen Denkübungen. Und belässt den Zustand, in dem es sein Publikum antrifft, unverändert. So prägt die Erwartungshaltung des Publikums mit all seinen irrationalen, anti-Intellektuellen und selbstgerechten Vorstellungen die Denke und die Ergebnisse der Programmmacher.
Das Kräfteverhältnis hat sich nicht nur gedreht, es ist auch gekippt, zulasten der Programmmacher, zugunsten der Programmnutzer. Das Privatfernsehen, das von der Nähe zu seinem Publikum lebt und sich aus existentiellen Gründen nicht erlauben kann, zuviel Abstand zwischen sich und ihm zu legen, geht von Jahr zu Jahr weiter in seinem Bemühen, eben dies zu schaffen. Zur Zeit gibt es Sendungen, die sich ausschließlich darin erschöpfen, dem Publikum vorzuführen, wie einige seiner Mitglieder agieren und ihr Leben organisieren. Lernen kann da niemand etwas, es sei denn, ihn treiben ethnographische Interessen, vielmehr kann man sich bestätigt oder abgestoßen fühlen. 
In letzterem Fall wird es mit Sicherheit entsprechende Formate geben, die einen dort abholen, wo man gerade steht. Zum Beispiel wird auch der aufstiegsorientierte Angestelltentypus in einem fast schon klassisch konzipierten Format wie dem "Perfekten Dinner" nicht etwa lernen, wie man sich perfekt in Gesellschaft benimmt und ein perfektes Abendessen präsentiert, sondern ihm wird der Restbestand an guten Manieren gezeigt und die Subjektivität der eigenen Auffassung, Erfahrung und Bereitschaft als bestimmendes Kriterium im sozialen aus- und Vergleich vorgeführt. Nach dem Theater hat nun auch das Fernsehen seinen Einfluss als Bildungs- und Erziehungsinstanz eingebüßt. Dass dieses System funktioniert und ganz ohne Frage ein Riesenerfolg ist, steht außer Zweifel. Nur macht der Erfolg die Resultate seines Wirkens nicht besser oder leichter erträglich.
Es ist ja nicht nur so, dass die Orte, an denen soziale Erziehung und Bildung abzuholen wären, immer weniger werden und im Zweifel eher verkünden, dass es gar nicht darauf ankäme, erzogen und gebildet zu sein, sondern ehrgeizig und selbstbewusst. Es ist ja nicht nur so, dass die vermittelten und gezeigten Inhalte immer weniger Anreize bieten, zu staunen, zu zweifeln, zu denken, es tritt ja auch das genaue Gegenteil ein. Vorurteile werden bestätigt, vorgefertigte Meinungen bestärkt, Ideen immer auf den Nutzen für das sie verwendende Individuum hin geprüft. Subjektivität, aufs äußerste getrieben und rücksichtslos als Wert an sich angepriesen, ersetzt heute die staatstragende, bildungsbürgerliche Attitüde der Vergangenheit. Subjektivität allerdings, die von sich selber nichts weiß, sondern sich für das selbstverständliche Maß aller Dinge hält, weil es außerhalb seiner selbst nichts zur Kenntnis nehmen will. Nachrichten vom Zustand der Welt, Informationen über die Interessen am anderen Ende der Welt dringen kaum dort hin. Und wenn sie wegen ihrer Dimension und Dramatik doch einmal den Adressaten erreichen, fühlt der sich angesichts der Komplexität der Ereignisse völlig überfordert.
Weil diese Gefahr schon immer bestand und auch vor 60 Jahren bestanden hat, erfand man damals unter anderem die "Tagesschau". Sie hätte ein Werkzeug sein können gegen die fortschreitende Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit in der Gesellschaft. Sie war es auch, solange der soziale Konsens es zuließ. Als er zerbrach, verlor diese Idee ihre Grundlage. Heute haben wir nicht etwa keinen Konsens mehr, sondern viele konkurrierende. Das macht es so schwer, Menschen für Politik und für die Gesellschaft zu interessieren. Und das erhöht die Verantwortung, die auf den Schultern derer lastet, die sie noch empfinden können.

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