Sonntag, Juni 24, 2012

"Hinein. Hindurch. Und darüber hinaus." Maximilian Schell und das Abitur 2012


Zum Gedenken an meinen Vater.
Für meine Söhne.

Die Lektüre von Zeitschriften und Zeitungen hat den unangenehmen Nebeneffekt, dass die eigenartige Gewichtung von Themen durch die Redaktionen auf Dauer dazu geeignet ist, das eigene Lebensgefühl und den Lebensrhythmus auf wunderliche Weise beeinflusst zu sehen. Beispielsweise durch die journalistische Manie, auf Jahresdaten, Jubiläen, Gedenktage oder wiederkehrende Ereignisse im Leben der Leserschaft einzugehen. Die Jahreszeiten, die Feste, die Feiern und regionale Traditionen wie Schützenfeste finden sich dann in unserer Lektüre wieder, ob wir dies nun wollen oder nicht. Manchmal sind sie eine eigentlich unerwünschte Dopplung unseres Erlebens, wenn man zum Beispiel in einer Region mit einer starken Schützenfesttradition lebt, oder sie thematisieren Gegebenheiten, die völlig an unserem Interesse vorbeizielen. 


Alle Jahre wieder....
In diesem Sinne kann man sich darauf verlassen, dass in jedem Jahr zu den Zeiten der Abiturprüfungen entsprechende Reflexionen über das Schicksal der Alterskohorte um die 19 Jahre angestellt werden. Entweder interviewt man sie, lässt sie in eigenen Kommentaren zu Wort kommen oder bettet ihre Erfahrungen in wissenschaftliche Erkenntnisse über berufliche Lebensperspektiven ein. So weit, so bekannt. Manchmal, eher selten, tritt dann aber der Fall ein, dass sich - gewollt oder nicht - eine reizvolle Kombination ergibt, wenn die Blattplanung zwei unterschiedliche Themenstrecken aufeinander folgen lässt, die mit einander in geheimer Korrespondenz zu sehen scheinen. In der aktuellen Ausgabe der FAS ist dies mit einem Interview mit dem 81jährigen Maximilian Schell und einer Reihe von Vorzeigeabiturienten, die kurz im O-Ton zu Wort kommen, offenbar so geschehen. 

Auf der pole position in's Leben
Reizvoll ist diese Kombination vor allem deshalb, weil sie - hoffentlich wahrscheinlich - zustande kam, ohne diese Kontrastierung zu suchen. Schell wird aus Anlass des Erscheinens seiner Biographie nach seinem Leben und seiner Lebensbilanz befragt, nach Erlebnissen und Eindrücken, nach Bewertungen und Erfahrungen. Die acht Berliner Abiturienten, deren Schnitt bei etwa 1,7 liegen dürfte, geben ihre Pläne und Vorhaben zu Protokoll und einige lassen sich luftspringender Weise dabei fotografieren. Während ihre Protokolle unter der relativierenden Powerüberschrift in Anspielung auf einen populären Song steht "Wir müssen nun wollen", scheint der alte Schell mit den Worten "Ich bin ja nichts geworden" kokett die eigene Lebensleistung nüchtern beschreiben zu wollen. Während der eine, wortreich am Ende seines Lebens stehend, bilanziert, dass seine günstigen Voraussetzungen beim Start ins Berufsleben zum Schluss keine entsprechend befriedigenden Ergebnisse gezeitigt haben, sind die anderen (fast) sicher, auf der pole position in's Leben zu stehen.

Ihr Leben ist noch unvollendet?" "Sehr."
Auf die Frage "Haben Sie den Eindruck, Ihr Leben ist noch unvollendet?" gibt er knapp, aber deutlich zur Antwort "Sehr." Die verwunderte Nachfrage "Aber es ist doch ein so reiches Leben. Sie haben so viel erreicht." kontert er kühl mit der Feststellung "Nein." und bleibt ein weiteres Mal bei seiner Feststellung, sein Leben sei unvollendet. Kurzfristig weiß man nicht, wessen Position hier die interessantere ist, die des Fragers oder die des Antwortenden. Interessant deshalb, weil man wissen möchte, wieso eigentlich Schell den Eindruck haben sollte, seine Lebensleistung vollendet zu haben. Immerhin gibt er zu verstehen, dass er manche Pläne nicht hat umsetzen können, dass ihm oft die Anerkennung versagt blieb, die er sich wünschte, und dass er immer noch voller neuer Pläne steckt. Warum also sollte er seine Gegenwart im mild-güldenen Lichte des Privatiers beurteilen? Warum, vor allem, erwartet man dies von ihm? Mag seine Antwort wie auch das gesamte Interview, möglicherweise sogar sein ganzes Buch, ein einziges fishing for compliments sein, wichtig ist jedoch die Weigerung des Alten, seinen ihm offenbar fest zugewiesenen Part im Generationenspiel ohne Weiteres zu übernehmen. 

Die Dinge beim Wort
Gehen wir hier mal der journalistischen Versuchung aus dem Wege, aus den Einlassungen des Schauspielers einen gesellschaftlichen Trend herauszulesen, nehmen wir einfach mal die Dinge beim Wort und lassen alle Vermutungen über die Zwischentöne einstweilen beiseite. Und wir wollten ja ohnehin über das Zusammenspiel der beiden Themen sprechen. Gibt Schell mit seinem "Ich bin ja nichts geworden" einen resignierend-melancholischen Ton vor, lautet die erste Antwort der Abiturienten darauf "Wir müssen nun wollen".

Aus der behüteten Jugendzeit im Schutze des Elternhauses und des Lehrerkollegiums werden die jungen Leute nun, ob sie wollen oder nicht, hinausgeschoben auf die Straße, von wo sie ihre Richtung und ihr Ziel suchen sollen. "Manchmal werde ich wehmütig", bekennt Björn, 21 Jahre, Note 2,6: "Als kleiner Junge hatte man nichts weiter im Kopf, als samstags früh auf dem Fußballplatz zu stehen und mit den Kumpels rumzubolzen. ... Ich bin 15 Jahre zur Schule gegangen, sie haben mich zum Jahrgangspapi gewählt. Ich dachte, es würde ewig so weiter gehen." Zitate wie gemalt, wie bestellt. Paul dagegen, 19 Jahre, Note 2,2, träumt von einer Familie und ausreichendem Familieneinkommen: "Die Generation meiner Eltern hätte meine Ziele spießig gefunden ... Aber ich habe kein Bedürfnis auszubrechen. In meiner Generation wollen viele einfach nur normal sein." Und damit ahnt er wohl gar nicht, wie leicht es ihm fallen wird, "einfach nur normal" sein Leben zu leben, ohne Spektakel, ohne permanenten Jubel und begeisterte Zeitungsanzeigen zur Feier der Taufe/ Einschulung/Konfirmation/ Führerschein/Abitur/Examen. Johanna, 19 Jahre, Note 1,0, stellt fest: "Notenmäßig bin ich privilegiert, weil ich mir keine Sorgen machen muss, ob ich ein Studienfach kriege. Meine Freunde und ich, wir sind unglaublich gelassen und optimistisch." Doch damit nicht genug: "Wir haben eine Lebensahnung, die uns die Sicherheit gibt, uns überraschen und verändern zu lassen."

Will man diesen Einlassungen gerecht werden, darf man sie nicht, kann sie gar nicht kommentieren oder gar deuten. Man kann sie getrost so stehen lassen, wie sie gedruckt wurden, ohne Rücksicht auf jede Halbwertzeit oder Nachhaltigkeit. Die Ausgangslage ist ja klar. Eine Zwischenstation, von der noch niemand weiß, dass sie nur eine Zwischenstation war, ist erreicht und nun "muss man wollen." Ein letztes Mal bekommt man diesen Marschbefehl und richtet sich danach. Die Marschzahl heißt Zielformulierung und Planerstellung, das hat man entweder schon erledigt oder grübelt noch drüber nach. Ecuador, Ausbildung, Praktika, Sauftouren - die Palette der Handlungsoptionen bietet keine großen Unterschiede im Vergleich zu anderen. Nur angesichts der Unbefangenheit, mit der die Schulerfahrung zunächst gedanklich in die Zukunft verlängert wird, ist der befangene Leser hin und her gerissen zwischen Zustimmung und dem Impuls zu rufen "Wartet, da gibt es noch Einiges, was ihr wissen sollte, bevor ihr auf Eure große Reise geht!" 

Maximilian Schell indes hat diese erste lange Etappe der großen Reise längs hinter sich gebracht, er hat all die Stationen gesehen, auf die die jungen Leute heute zusteuern, er hat die zahllosen Entscheidungen getroffen, die getroffen werden mussten und kennt das Ergebnis längst. Ein Ergebnis, für das das es keinen Notendurchschnitt und keine Ausbildungsförderung gibt, für das man am Ende allein verantwortlich zeichnet, für das es dann kein Rückgaberecht, keinen Umtausch, selten eine zweite Chance gab. Wie mag er die Frage empfunden haben, die ihm vorgelegt wird: "Wie fühlt es sich an, einer zu sein, den das Schicksal so begünstigt hat? Talent mitbekommen, Erfolg, interessante Leute getroffen.... Empfinden Sie das so: Begnadet zu sein?" Auch hier eine knappe Antwort: "Eigentlich nicht." Er schildert die Situation, im der er sich nach der Schulzeit befand: "Ich hatte eine ganz normale Jugend, ging auf's Gymnasium. Danach wollte ich eigentlich nach Deutschland, nach München; dort war ich drei Jahre an der Universität. Ja, und dann ging ich nach London und New York und Hollywood. Ich dachte," resümiert er und lacht dabei, "das ist immer so." "So einfach?" setzt der Interviewer nach und Schell entgegnet "Na ja, klar. Man weiß ja nicht, wie es anderen Menschen geht. Man denkt: Da ist man halt."
Und sechzig Jahre später findet man sich – „dann halt“ - in einem Interview wieder, in dem man den Weg, den man seit damals gegangen ist, schildern und rechtfertigen soll. Das tut er dann aber gar nicht, sondern fasst zusammen: "Aber ja, ich bin ein Träumer, ich bin auch immer ein Romantiker gewesen, ich kenn' nichts Anderes. Was soll man denn sonst tun als träumen?" und kündigt an, einen Film über Hamlet drehen zu wollen. 

"Man denkt: Da ist man halt."  
Schell verklärt sehr selbstironisch, aber auch mit der Attitüde dessen, der nichts mehr beschönigen muss und will, seinen Lebensweg als vergleichbar mit einem Traum. Dies ist aber kein Traum der Erkenntnis, der Selbstreflexion, der Erlösung von irgendeinem Leid oder einer Unsicherheit. Er scheint ihm so etwas gegeben zu haben, wie eine traumwandlerische Sicherheit, eine beinahe kindliche Selbstgewissheit bei der Entscheidung über den nächsten Schritt: "Man denkt: Da ist man halt." Unsere acht Berliner Abiturienten haben in ihrer Mehrheit eine ähnliche Selbstgewissheit und Sicherheit. Aus ihnen sprechen noch die Stimmen ihrer zahlreichen Berater, Eltern, Lehrer, Geschwister, Berufsberater, Zeitungsartikel. Aus ihnen spricht noch das Vertrauen auf ein gewisses Maß an Planbarkeit und Programmierbarkeit der Zukunft, sie haben so etwas wie eine Vereinbarung mit ihrem Leben getroffen und vertrauen darauf, dass das Leben seinen Teil der Vereinbarung erfüllen wird, wenn sie selbst ihren Teil liefern. Sie sind bereit, weite Wege zu gehen, ohne zu wissen, was am Ende auf sie wartet, sie schmieden ihr heißes Eisen und wissen noch nicht genau, wohin sie ihr Pegasus, den sie damit beschlagen möchten, tatsächlich tragen wird. Vom Ende des Weges, vom Ziel sprechen sie ohnehin nicht. Oder sie verlegen es in die nähere Zukunft ohne Rücksicht darauf, dass es eigentlich auch um die fernere Zukunft geht.

Dort ist Maximilian Schell bereits angekommen, lebt in einem einsam gelegenen Haus auf einer Kärntner Alm, das seiner Familie bereits seit vielen Jahrzehnten gehört, ist zurückgekommen von der Reise, die noch vor den Berlinern liegt. Und er nährt noch immer diese Flamme, die auch sie antreibt, auch er fühlt sich noch nicht angekommen und vollendet. Vielleicht ist dies die Gemeinsamkeit, die die Generationen trennt. Das Streben nach einem Ziel und das immer weitere Verschieben dieses Zieles in eine noch fernere Zukunft. Oder wie Schell es einmal in einer Filmrolle formulierte: "Hinein. Hindurch. Und darüber hinaus."


P.S.: Glückwunsch an die Berliner Abiturienten und die besten Wünsche auf ihrem Lebensweg! Mögen sie eines Tages auf ihrer Alm ankommen....

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