Freitag, Juni 29, 2012

Song Factory

If you don't know me by now
Simply Red, 1989
(Kenny Gamble and Leon Huff, 1972)  

Dieser Song gehört zu denen, die nur von einem Mann interpretiert werden können. Seine getragene, traurig-resignative Haltung und natürlich der leicht verständliche Titel suggerieren, dass hier ein unverstandener Mann seinen Anspruch auf Verständnis und Einfühlung einklagen möchte, dass er sein Bedauern darüber aussprechen will, dass seine Geliebte ihn nach länger Zeit des Kennens am Ende noch immer nicht kennt. Offenbar ist ihm Unrecht geschehen, vielleicht will ihn die geliebte Frau verlassen, vielleicht hat sie ihn schon betrogen und er stellt sie nun zur Rede, weil sie offensichtlich mit seiner Liebe nichts anzufangen weiß. So weit die landlaufige Erwartung an den Song. Doch ist es wirklich so? 
Never, never, never
Der Song erzählt die Geschichte einer Beziehung, beziehungsweise er lädt uns als Zuhörer dazu ein, als es in der Beziehung zu offensichtlichen Spannungen zwischen den Liebenden gekommen ist. Wir werden gewissermaßen als Ohrenzeugen hinzugeholt, als er versucht, ihr zu erklären, wie es tatsächlich um ihrer beider Beziehung bestellt ist. Offenbar hat sie ihm Vorhaltungen gemacht, denn er macht ihr gleich zu Beginn klar, dass es keinen Sinn mehr habe, ihn verstehen zu wollen, wenn sie es bis hier hin noch immer nicht geschafft habe: "If you don't know me by now you will never never never know me." "Never never never", nicht nur nie, sondern dreifach niemals, sagt er ihr und zieht eine unsichtbare Linie, über die einer von ihnen wird gehen müssen, um über die Zukunft ihrer Beziehung entscheiden zu können. 

Doch was war der Inhalt ihrer Vorhaltungen, weshalb hat sie sich beschwert und ihm ihr Herz ausgeschüttet? "Don't get so excited when I come home a little late at night." Offensichtlich ist sie nicht damit einverstanden, dass er es liebt, seine Ausflüge in die Bars und Kneipen mit seinen Freunden gelegentlich etwas auszudehnen. Er beteuert, dass er genau wisse, was falsch und was richtig sei, und dass er deshalb ihr Vertrauen verdient habe: "Now girl I know the difference between right and wrong I ain't gonna do nothing to break up our happy home." Man stelle sich vor, dass der Sprecher/Sänger regelmäßig mit seinen Freunden unterwegs ist, um ein klein wenig Spaß zu haben, möglicherweise kommt er alkoholisiert und entsprechend derangiert nach Hause, in sein "happy home", wo die Frau allein oder vielleicht auch mit dem Kind auf ihn wartet. 

Und während sich der Sänger elegisch voll in die Kurve legt und seiner Frau mit resignierendem Tonfall klar macht, dass ihm ihre Kritik ziemlich heftig auf die Nerven geht, umspielt die Melodie die Diskussion der beiden Partner wie mit einem Weichspüler und glättet die harten Kanten. Er wirft ihr seinerseits vor, dass es kindisch sei, "when we argue, fuss and fight." Und er wiederholt traurig seine Schlussfolgerung, dass sie ihn wohl nie recht verstehen werde, wenn sie es bis heute nicht geschafft habe.

Grande finale
Und dann geht er zum finalen Frontalangriff über. Nachdem er klar gemacht hat, dass alle Menschen einmal ihre seltsamen Stimmungen haben, "funny moods", er sowohl wie auch sie, sei es ja wohl nicht zu viel verlangt, ihm dasselbe Vertrauen entgegen zu bringen, wie er es für sie tut: "Just trust in me like I trust in you as long as we've been together it should be so easy to do." Es ist schon so lange mit den beiden gutgegangen, dass es nicht einzusehen ist, weshalb es unter diesen Umständen nicht weitergehen soll: "Should be so easy to do." 


Man stelle sich die Reaktion seiner angesprochenen Frau vor, die möglicherweise nicht einsehen will, dass die nächtlichen Ausflüge ihres Mannes als Ausdruck seines unkomplizierten Freiheitsdranges mit all ihren Konsequenzen fur das häusliche Wohlergehen zu tolerieren seien. Offensichtlich scheint sie nicht gewillt auf die Beteuerungen ihres Mannes einzugehen, denn nun fühlt er sich genötigt, die ultimative Folgerung aus ihrem Verhalten zu ziehen: "Just get yourself together or we might as well say goodbye." Kaum dass er also in sein happy home heimgekehrt ist und sich dort mit der Wirklichkeit des friedlichen Heimes konfrontiert sieht, droht er mit Konsequenzen. Zumindest macht er deutlich, wohin dieser Streit und all die Diskussionen führen werden, wenn sie nicht rechtzeitig ein Ende finden: Die Trennung natürlich, die ihn für ihn angesichts der Vorhaltungen eine folgerichtige Entscheidung ist. Dies deutet darauf hin, dass es nicht das erste Krisengespräch dieser Art sein könnte, sonst wäre die angedrohte Konsequenz nach "all the things that we've been through" ein wenig überzogen.


Gesprächspartnerin nur zu erahnen 
Als entnervte Lösung nach dem ungezählten x-ten Streit erscheint es einfacher nachzuvollziehen. Und während der möglicherweise angeheiterte oder verkaterte Mann dazu neigt, die Beziehung zu ändern, weil seine Frau seine Eskapaden offensichtlich nicht mehr dulden will, schluchzt die Musik dazu, nimmt die Band Fahrt auf und umrahmt den Sänger mit schmeichlerischen 4/4-Takten, was seine Rolle im Disput wirkungsvoll unterstreicht. Zumal die Position der Gesprächs-partnerin nur zu erahnen ist und aus den Argumenten des Sängers erschlossen werden muss. Der Song nimmt also die Position des Mannes ein und verteidigt mit allen musikalischen Mitteln seinen Anspruch auf Selbstverwirklichung und seinen Teil vom Leben außerhalb des happy home. Klassischer könnte man das Rollenklischee von Mann und Frau gar nicht in einen Song pressen, einseitiger könnte man gar nicht Partei für die eine Seite der Diskussion ergreifen, als es der Song tut. Das Ende lässt den Ausgang der Geschichte denn auch offen. Der Hörer bleibt wie der Sänger in der abwartenden Haltung zurück und weiß nicht, wie die Geschichte ausgeht, wie vor allem die Frau reagiert. 

Von Liebe hat der Sänger in seinem Streitbeitrag gar nicht gesprochen, auch nicht davon, dass er um Verzeihung bittet für einen Fehler, den er möglicherweise gemacht hat. Für ihn ist die Sache klar: Er möchte nur gelegentlich spielen und möchte dafür die carte blanche. Dieser angebliche Lovesong, der ein Streit-Song ist, will aufs Ganze gehen und keine Kompromisse machen. Und ist damit ein echter Stresstest für diese Beziehung. Wünschen wir den Liebenden doch einfach alles Gute und ein baldiges Ende ihres Streits, denn "what good is a love affair when you can't see eye to eye?" 

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