Samstag, Juni 30, 2012

Gods of the Arena - Nach der Euro 2012

Geschichten, Bilder, Legenden
Die Fußball Europa-
meisterschaft 2012 ist 
so gut wie Geschichte. 
Geschichte ist auch die 
Abfolge von Anekdoten und Geschichten, die am Rande des Turniers erzählt und gefunden wurden. Es gab die übliche Reihe von Siegern und Verlierern, Überraschungen und Enttäuschungen. Der geübte Zuschauer, der Fan, der sportbegeisterte kennt die Dramaturgie eines solchen Ereignisses und schaltet gerade deshalb immer wieder ein oder kauft sich ein Ticket für den Stadionbesuch, den ultimativen Kick, wenn es darum geht, Teil der Großinszenierung zu werden und den Gladiatoren in der Arena möglichst nahe zu sein.
Sieger und Verlierer
Doch mit einigem Abstand vom Ereignis werden die Fragen auftauchen, welches Spiel, welche Großtat, welches Bild sich auf lange Zeit ins kollektive Gedächtnis des Fußballschwarms eingebrannt haben wird. Die unendliche Geschichte der Euro 2012 beginnt ja erst mit der Sekunde des Abpfiffs, wenn der Sieger feststeht und die Verlierer zu namenlosen Randnotizen der Sportgeschäfte werden. Ein Bild dürfte dabei allerdings beste Aussichten haben, niemals in Vergessenheit zu geraten. Als der italienische Stürmer Mario Balotelli im Spiel seiner Mannschaft gegen Deutschland sein zweites Tor mit einem beeindruckend kraftvollen Abschluss erzielt hatte, streifte er sich regelwidrig das Trikot über den Kopf und verharrte in der Pose des Triumphators. Mit stoischem Gesichtsausdruck und der Pose eines Preisboxers, dessen Gegner geschlagen am Boden liegt, stand er auf dem Platz und genoss den Moment.
In diesen wenigen Minuten der Selbstinszenierung trat nicht nur der spezielle Charakter des Mario Balotelli zutage, sondern im direkten Zusammenwirken mit dem enthusiasmierten Publikum zeigte sich, dass die Menge auf den Rängen die Botschaft verstanden hatte: "Seht her, hier stehe ich, stark, siegreich, furchtlos, und ich habe diese Tat vollbracht, um Euch zu begeistern, um mit Euch in dieser Sekunde des Triumphes eins zu sein." Das Publikum verstand diese Geste und jubelte frenetisch.


http://gotbalotelled.tumblr.com/
So machen es die anderen...

Balotelli, der als Enfant terrible bekannt war und von dem weit extremere Missetaten erwartet worden waren, faßte seine ganz persönliche Geschichte, seine Erfahrung in diese Pose, in diesen Akt des Sieges. Das Publikum hatte genau dies von ihm verlangt, er hatte den Auftrag, den Sieg herbei zu spielen, die Gelegenheit zu nutzen und sich dem Gegner als überlegen zu erweisen. In der Sekunde des Gelingens kreuzten sich die kollektiven und individuellen Erwartungen und das Gefühl der Erlösung im Torschuss und im Torschrei. Das Publikum antwortete mit einem Schrei wie aus einer einzigen Kehle und bildete mit seiner Emphase den völligen Gegensatz zur eingefrorenen Pose des Triumphators auf dem Spielfeld. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/balotelli-pose-des-torjaegers-interessant-fuer-forscher-a-841811.html 

SPON: Rätselhafte Siegerpose


Balotelli war in dieser Sekunde der Mann, in dem die Hoffnungen und Wünsche tausender, millionen Zuschauer kulminierten und der in einzigartiger Weise diesen Wünschen gerecht geworden war. Andere Torschützen deuten die Verbundenheit mit den Massen nur an, winken ihnen zu und bedeuten den Vielen, dass sie gemeinsam auf der Siegerstraße sind. Balotelli jedoch hat mit seiner Inszenierung sich selbst quasi ein Denkmal gesetzt, sich wie ein römischer Gladiator oder ein griechischer Olympionik in der Haltung eines unsterblichen, unbezwingbaren Siegers präsentiert. All dies steckt in dem Foto, das millionenfach gedruckt und vervielfältigt um die Welt gegangen ist und sich in unser Gedächtnis eingebrannt hat.

Zinedine Zidane und sein Widersacher Materazzi, 2006
Gezielter Kopfstoß
Eine ähnliche Wirkung ging sechs Jahre zuvor von einer Szene im Endspiel der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland aus. Der französische Megastar Zinedine Zidane wurde von seinem italienischen Gegenspieler Materazzi derart provoziert, dass er ihn kurzerhand mit einem gezielten Kopfstoß vor die Brust fällte wie einen Baum. Das Foto und die Filmsequenz davon gehören heute zum Kanon der Sportbilder des Jahrzehnts, des Jahrhunderts. Bis heute ist nicht einwandfrei geklärt, was Zidane tatsächlich zu dieser Reaktion gebracht hat, aber es muss etwas gewesen sein, das den damals weltbesten Spieler dazu brachte, im Bruchteil einer Sekunde die Verteidigung seines Titels als Weltmeister aufzugeben, um die Beleidigung zu rächen, die offenbar ausgesprochen worden war. 

Zidane erntete für seine Aktion keine Begeisterungstürme, keinen Jubel. Vielmehr Unverständnis und Beschimpfungen. In seinem Kern jedoch verschaffte sich in Zidanes Kopfstoß dieselbe explosive Gewalt Luft, die Balotelli Jahre später zu seiner sportlichen Großtat im Angesicht von millionen Menschen trieb. 
Während Balotelli die Anwendung von Kraft und Schnelligkeit regelkonform in Erfolg umsetzte und anschließend dem Volk zeigte, welche Bedeutung diese Tat eigentlich hatte, nämlich den Sieg des Stärkeren über den Schwächeren, wandte Zidane eben diese Eigenschaften in zerstörerischer Absicht gegen den Italiener. Der Impuls, die Kraft, die Gewalt, die dabei zum Ausdruck kam, ist jeweils dieselbe, der Grat dazwischen sehr schmal. Die Erwartungen der Zuschauer und des Fachpublikums wären eher von vertauschten Rollen ausgegangen, in der Realität zeugte sich jedoch, dass der filigrane Fußballkünstler Zidane ebenso dazu fähig war, wie der angebliche Straßenfußballer Balotelli im Hinblick auf die energiegeladene Explosivität seiner Aktion. 

Wo der Italiener 2012 die Möglichkeit von Gewalt in seiner Pose nur zitiert und andeutet, hat der Franzose von der Möglichkeit, Gewalt ausüben zu können, um den Gegner zu strafen, Gebrauch gemacht. Das Publikum reagierte in beiden Fällen unterschiedlich, schließlich waren ja auch die Konsequenzen beider Aktionen verschieden von einander. Aber es begriff jeweils, dass hier die subkutan immer vorhandene Gewaltmöglichkeit ihren Ausbruch gefunden hatte. Einmal gebändigt in der Pose, das andere mal ungebremst in der Aktion. Und damit zeigte sich auf dem Platz, was auf den Rängen, aber vor allem vor den Stadien seit Jahrzehnten Normalität ist.

Latente Botschaft des Spiels
Die gewaltbereiten Hooligans reagierten schon immer auf die latente Botschaft des Fußballspiels, hier die körperliche Auseinandersetzung innerhalb eines ausgefeilten Regelwerkes auszutragen, mit der Antwort, dass ihnen die mehr und mehr zunehmende Befreiung des Spiels von diesen unerwünschten Nebeneffekten nicht mehr ausreichte, um sich für den Sport begeistern zu können. Diese Aussage trifft nur insofern zu, als sich das Bedürfnis nach gewalttätiger Aktion im Falle eines fehlenden Anlasses andere Anlässe suchen würde. Fußball jedoch ist in seiner ganzen Anlage darauf angelegt, die körperliche Aggression in Regeln zu bändigen und zu kanalisieren. Versehen mit dem aus dem englischen Gentleman Ideal entlehnten Fair Play-Gedanken, ist modernes Regelwerk im Fußball geradezu die Leugnung des Entstehungsgedankens des organisierten Fußballsports. Alle männlichen Behauptungsfertigkeiten wurden bis auf jene, die auf die unmittelbare Handhabung und Eroberung des Spielobjektes, des Balls, gerichtet waren, entweder verboten oder eingeschränkt erlaubt. Betrachtet man die Vorstufen des Fußballs, die hie und da vor allem im Vereinten Königreich noch gespielt werden, wird deutlich, in welcher Art in den alten Zeiten die Anwendung und der Gebrauch von Gewalt legitimes Mittel zum Zweck war. 


Markenbotschafter Jerome Boateng

Die Hooligans der Neuzeit möchten in der Ausübung ihrer Gewaltexzesse wieder zurück in diese alten Zeiten und sich stundenlang mit Hunderten von Opponenten durch die Straßen der Kleinstädte prügeln und jagen. Die Hooligans sind damit die erkennbar tragischen Figuren der Entwicklung der modernen Zivilgesellschaft, die darauf hingewirkt hat, den einzelnen von jeder Bedrohung durch Gewalt frei zu stellen. Genau diesen Status möchten die Hooligans wieder abschaffen, um ihre Möglichkeiten im Kampf um sozialen Status zu verbessern. Leider wäre dies aber eine Gesellschaft der Barbarei und des Chaos, so dass es keine andere Möglichkeit für die Autoritäten des Staates gibt, als entschieden dagegen zu halten.

Sport, Dienstleistung, Marke?
Der moderne Fußball ist ganz ohne Zweifel eine Massenbewegung und eine Bewegung, die Massen erfasst. Aber sie ist auch eine Industrie, ein Wirtschaftszweig, mehr Dienstleistung als industrielle Produktion mit körperlichen Anteilen, mehr Angestelltenkultur als die überkommene Arbeiterstruktur. Es gehört sinnigerweise zu den modernen Mythen des Fußballs, dass die Spieler ihren Fans harte Arbeit schuldeten, dass es notwendig sei, an die alten Traditionen des sich Bemühens und des Quälens für den Erfolg wichtig sei. Nicht die im modernen Fußball angestrebte technische Feinheit, die schwebende Eleganz des One-Touch-Spiels, die Perfektion im taktischen und technischen Bereich stellt den Zuschauer zufrieden, sondern der verbissene Kampf um jeden Millimeter, die Härte gegen sich selbst und den Gegenspieler und die Bereitschaft, alles andere dem Streben nach dem Sieg unterzuordnen. Der Trainer von Borussia Dortmund, Jürgen Klopp, sprach von der Gier seiner jungen Mannschaft nach Erfolg, der sie alles unterordnete, indem sie hohen athletischen Aufwand mit feinster technischer und taktischer Umsetzung verband. In einem Kommentar zum Spiel der deutschen Mannschaft gegen Italien stellte der ehemalige Spieler und heutige TV-Kommentator Mehmet Scholl die Forderung auf, die Spieler müssten der Gier nach dem Erfolg alles andere unterordnen und machte den größeren Erfolgshunger der Italiener zum entscheidenden Erfolgsfaktor in der direkten Konfrontation. 

Hier lauert ein zunächst nicht aufzuhebender Widerspruch in dem, was heute die Erfolgsformel des Fußballs sein könnte. Auf dem Platz, für eine Mannschaft geht kein Weg daran vorbei, sich technisch, taktisch und athletisch auf höchste Anforderungen vorzubereiten und dabei Schnelligkeit, Ausdauer, Gewandtheit und Kraft intensiv zu schulen. Ein Spiel soll am Ende dabei entstehen, das immer weniger von den Ergebnissen der direkten Konfrontation am Ball abhängig sein soll. Balleroberung heißt dabei nicht, harter und entschlossener zu grätschen, sondern das Spiel immer mehr zu antizipieren und zu durchschauen, um so gedankenschnell auf die wechselnden Situationen auf dem Platz reagieren zu können. Auch und gerade unter Vermarktungsgesichtspunkten ist diese maschinenhafte, exakte und kunstvolle Spielweise erwünscht. Sie korrespondiert bestens mit den Markeneigenschaften bekannter Markenprodukte, die sich wiederum als Sponsor betätigen und so dem Sport völlig neue wirtschaftliche Dimensionen eröffnen. Schon aus diesem Grund wird man dem anderen Faktor des Erfolgs, den Erwartungen der Massen, nicht mehr entsprechen können.

Natürlich ist eine Dorfmannschaft kein ernsthafter Kandidat auf den Gewinn der Champions League, aber die Durchstilisierung des Fußballs von der höchsten bis in die tiefsten Spielklassen hinein, wird dem traditionellen Kampf- und Kraftsport Fußball auf Dauer in der Art, wie wir ihn kannten, ein Ende bereiten. In den höchsten Klassen wird der Zuschauer seine Erwartungen an's Laufen, Rennen, Kämpfen nicht mehr erfüllt finden. Die Stadien werden mehr und mehr zu Eventkathedralen mit eigener wirkungsvoller Choreografie und Inszenierung, inklusive Würstchenstand und VIP-Logen.
Unter all dem jedoch wird sich niemals die Entstehung des Fußballs aus dem rauen Kraftmessen junger Männer verleugnen lassen. Während auf dem Platz der Spieler höchstes Ansehen genießt, der die wenigsten Fouls benötigt, werden die jungen Männer auf den Rängen sich von der Körperlosigkeit des Spiels gelangweilt fühlen und dafür einen Ausgleich verlangen. Wenn dann noch soziale Erlebnisse wie Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und allgemeine Perspektivlosigkeit hinzukommen, ist die Grundlage für das, was wir an Gewaltbereitschaft schon in Polen und in der Ukraine erlebt haben, gegeben. 

Fußball im Museum 
  
Mario Balotelli dagegen wird davon nichts spüren und seinen Weg als erfolgreicher Fußballstar weiter gehen. Er wird sich sein Leben lang an seine gekonnte Selbstinszenierung 2012 erinnern und das Foto werden die meisten von uns noch nach Jahren beschreiben können. So wie das des Uwe Seeler mit hängendem Kopf nach dem WM- Endspiel 1966 oder der einsame Beckenbauer nach dem Sieg im Finale 1990. Wie nah die Schönheit des Fußballs, seine geheimen Antriebe und Erfolgsrezepte an der Kunst liegen, zeigt das Beispiel von Zinedine Zidane. Dessen Aktion von 2006 hat unter dem Titel „Coup de tete“ in Bronze gegossen ihren Weg ins Museum gefunden. Dort ist der Moment, in dem Materazzi zu Boden fällt, von Adel Abdessemed für die Ewigkeit festgehalten, in all seiner schmucklosen Explosivität und in der Andeutung der zahllosen Geschichten, die sich hinter dieser Sekunde der Sportgeschichte verbergen.

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