Freitag, Juli 06, 2012

Song Factory Vol 4


Freiheit & Schweigen ist feige
Marius Müller-Westernhagen, 1990/1994
Wer in den 80er und 90er Jahren um die 25 oder 35 Jahre alt war, kam in seiner täglichen Ration Musik über Radio oder Freunde nicht nicht an Marius Müller-Westernhagen vorbei. Inzwischen nur noch eine Randnotiz im Deutschock-Business war er damals der Stadionrocker per se, hatte eine ausverkaufte Tournee nach der anderen und verkaufte mehr Platten als irgendein anderer deutscher Rockstar. Seine Bühnenshows liefen nach einem gewissen Drehbuch ab, legendär sind die "spontanen" Zwischentexte, die sowohl auf den Live-Alben wie bei den Liveauftritten wörtlich wiederholt wurden. 

Zu den größten Erfolgen dieser Zeit gehörten die beiden Hymnen "Freiheit " und "Schweigen ist Feige, Reden ist Gold." Mit diesen Songs allein hat er sich in der deutschen Rockgeschichte beinahe unsterblich gemacht. Wie kein anderer vermochte er es, die Pose als Haltung zu verkaufen, die Simulation als Erlebnis und Wortreihen als Songtexte. Die achtziger Jahre hatten bis zum Hochamt der deutschen Wiedervereinigung unzählige Auseinandersetzungen um die globale Friedenspolitik, Auf- und Abrüstung  und Umweltpolitik gebracht. Als Spät-punker, den Westernhagen vorgab zu sein, sprach er Themen wie Freiheit und Zivilcourage an und machte mit schnellen, harten Rocksongs die rebellische, aufbegehrende Musik dazu. "Freiheit" beginnt mit der Schilderung eines Staatsaktes, eines hochrangig besetzten Ereignisses der Politik oder der Gesellschaft oder auch nur eines gelungenen (Platten-?)Vertragsabschlusses::

Die Verträge sind gemacht
Und es wurde viel gelacht
Und was Süßes zum Dessert
Freiheit, Freiheit.

Völlig unvermittelt verweist der Erzähler auf das Thema Freiheit. Ist es die der Vertragspartner, ist sie es, die dem Dessert die Süße verleiht, gönnt man sich als Dessert das sichere Gefühl die Freiheit erreicht zu haben, in der wunderbare Geschäftsabschlüsse möglich sind? Eine Rum-ta-ta-Kapelle spielt provinziell bieder zur Feier des Tages an einem Ort, den sogar der Papst schon besucht hat, und an dem heute der Nachbar seinen großen Auftritt "vorneweg" hat. An diesem Ort, wo Verträge gedeihen und Otto Normalverbraucher es sich gut gehen lässt, fehlt eines, nämlich die Freiheit: "Freiheit, Freiheit ist die einzige, die fehlt." Die einzige was? Errungenschaft, Tugend, Bedingung, Belohnung, Zielvorstellung? Hier an diesem Ort ist keine Freiheit, hier triumphiert der Kleinbürger, der sich ins Geschirr der Businessziele und der kleinen Ehrenbezeugungen begeben hat.

"Freiheit," Singt Westernhagen weiter, "Freiheit wurde wieder abbestellt." Von wem? Von den Geschäftspartnern, ihren Hintermännern? Ihren Angestellten? Von wem? Westernhagen versteht es gerade eben noch, eine Szene zu skizzieren, die der Hörer meint, wieder erkennen zu können, die ihm irgendwie aus Hunderten von Vorlagen bekannt vorgekommt. Ein Deja vu, das wegen seiner Einfachheit und Einprägsamkeit keine weiteren Umschreibungen oder Erläuterungen braucht. Auch keine weiteren Menschen, außer dem nachbarn tauchen keine weiteren auf. Dazu ein Refrain, der in seiner assoziativen Lockerheit lässig daher kommt und sich darauf einlassen kann, dass jeder weiß, was gemeint ist, auch wenn der Sänger darauf verzichtet, es zu sagen oder es zu erklären. 

Endgültig skurril wird es, wenn sich der Sänger an sein Publikum wendet und ihm sagt, "Alle, die von Freiheit träumen, sollen das Feiern nicht versäumen, sollen tanzen auch auf Gräbern." Wessen Gräber? Wieso tanzen? Wieso feiern? Wäre der Kampf für die Freiheit, um die Freiheit nicht das näher liegende Gebot? Wäre der Respekt vor den Gräbern für die, die im Kampf um die Freiheit ihr Leben ließen, nicht das Gebot der Stunde? Der Assoziationssprung des Textes löst ihn völlig aus einer inhaltlichen Verankerung und lässt den Text und seine mögliche Bedeutung, seine Richtung, seine Message schweben. Schweben ins Unverbindliche, ins Ungewisse, ins Ungenaue. Dort werden Gefühle gestreichelt, dort werden Probleme gemalt, nicht beschrieben, und am Ende ist der Ruf nach Freiheit ähnlich gehaltvoll wie der nach Zugabe oder Freibier. 

"Schweigen ist feige, Reden ist Gold"
In seinem Song "Schweigen ist feige, Reden ist Gold" greift Westernhagen auf einen Standard der nonkonformistischen Protestbewegung zurück. Brecht hatte in einem Gedichte die Zeile geprägt, dass Schweigen nicht gehe, "wenn es das Schweigen über soviele Verbrechen einschließt." Schon beim Lesen des Songtitels kann der Autor des Songs auf Zustimmung setzen, weil dies ein Postkartenspruch des Protestes ist, mit dem man nichts riskiert und nichts beweist. Heute, fast 30 Jahre später, sind solche Zitate Teil einer schlichten Motivations- und Supporting-Kultur in Internetforen und auf Facebook geworden. 

Westernhagen erweist sich als ein wahrer Meister der Leerstellen im Text. Der Hörer/Leser verbringt dabei mehr Zeit damit, die leeren Stellen zwischen den Worten und den Sprachbildern mit Sinn zu füllen, als aus dem ausgeschriebenen Text Sinnfunken zu schlagen. Der Song setzt stark ein, "ich bin der schwärzeste Neger, ich bin der jüdisches Jud., ich bin der deutscheste Deutsche, ich hab das roteste Blut." Wenn man hier nicht dem Verdacht nachgehen möchte, dass der Text ein reines Reim-dich-oder-ich-Hau-dich-Machwerk ist, scheint der Autor hier mit einigen sprachlichen und politischen Tabus zu spielen, wenn er sich Eigenschaften in einer Wortwahl beimisst, von denen man annehmen will, dass sie im Großteil der Bevölkerung nicht auf Zustimmung stoßen. Der Sänger schweigt nicht zu den täglichen Diskriminierungen, dem Anti-Semitismus, dem Nationalismus. Der Sänger bezichtigt sich selbst und stellt damit eine Identifikation mit allen her, die randständig sind, die am rechten oder am linken Rand der Gesellschaft ihre Gegner haben. So weit, so kräftig.

Dann aber gehen dem Texter die sinnvollen Bezüge verloren und er rettet sich nur noch von einem Reim zum anderen: "Ich hab die weißeste Weste, ich hab den größten Schwanz, ich fress von allem die Reste, ich bin ein Rosenkranz." Man kann hier auch feststellen, dass der zweite Teil der Reimdrohung eingetreten ist, der Text hat seinen Autor, bzw. seinen Sinn gefressen und beginnt im Meer der Worte und Bedeutungen hilflos mit den Schwimmflügelchen zu wedeln. Vollends schiesst Westernhagen den Vögel höherer Bedeutung mit einem gezielten sprachlichen Schrotschuss ab, wenn er zusammenfasst: "Wenn der Himmel sich öffnet , an jenem jüngsten Tag, wird die Liebe sich rächen, an dem, was wichtig war." Normalerweise erwartet der geübte Katholik, dass sich Jesus am sich öffnenden Himmel zeigt und dass gerade der sich nicht rächen wird, sondern seine allumfassende Liebe ausschütten will. Von Rache ist bei himmlischen Mächten selten die Rede, zumindest im christlichen Kontext. Und was war wichtig? Oder wer war wichtig? Wird Rache nicht eher an Menschen geübt, statt an Dingen? Was will der verwirrte Autor uns damit sagen?
Westernhagens Texte sind häufig mehr eine Sammlung von einzelnen Elementen, die einem durch den Kopf gehen mögen, wenn man auf der Suche nach starken Bildern, starken Wendungen ist. Aber die disparaten Teile aus dem Textbaukasten ergeben selten wirklich ein Ganzes, immer wieder bricht Westernhagen seinen Bilderfluten durch Verlegenheitslösungen, durch Zufallsreime und beschädigt so die Wirkung seiner Kreation. Und vor allem kommt keine Geschichte zusammen. Auf der Bühne ist das eher zu kaschieren durch die treibenden Rhythmen und die anderen Ingredienzien des Rock. Aber der Verdacht liegt nahe, dass dies alles nicht echt ist, nicht wirklich gefühlt oder gedacht, sondern nur Imitation und Simulation. Und vor allem Spekulation auf das Einverständnis des Publikums, das live vor der Bühne das Ereignis, das Erlebnis will, und das mit wenigen Worten schon in die richtige Richtung gewiesen werden kann, "Schweigen ist feige, Reden ist Gold." Noch Fragen? 

1 Kommentar:

Miriup hat gesagt…

Hallo Walter,

mir war gerade der Song "Freieheit" in den Sinn gekommen und ich habe mich gerade über seine Bedeutung gewundert. Bei einer Mini-Recherche bin ich auf Deinen Artikel gestoßen. Sehr interessante Hintergrund-Info zu den 80ern und den politischen Diskussionen damals.

Nicht so ganz zustimmen konnte ich Deiner Interpretation im letzten Absatz. Du hast den Text auf einem Blatt analysiert und hast Dir - meiner Meinung nach - dabei nicht vergegenwärtigt wie Westernhagen diesen Teil des Liedes gesungen hat. Nämlich mit einer deutlichen anderen Betonung. Die Art der Betonung von "Sollen's Feiern nicht versäumen" kenne ich von Punkern und würde als Interpretations-Ansatz vielleicht eher "Satire" oder eine Form von "Zynik" ansetzen.

Das Freiheits-Konzept von Punkern in meiner Erfahrung war oft eher das Leben von Freiheit und eben ganz konkret "feiern". Die Punker, die ich kenne, war eigentlich nur mäßig politisch aktiv - und vor allem nicht mehr wenn es anstrengend wird. Feiern stand da schon irgendwie immer im Vordergrund als Ausleben von Freiheit. Dieses Freiheitskonzept ist aber eigentlich ganz anders, als das derer die für uns in der Vergangenheit für die Freiheit der Mehrheit gestorben sind und eventuell nicht das Punkerkonzept von Freiheit vertreten hätten. Viele Humanisten des 20. Jahrhunderts würden von der Punkergeneration die ich erlebt habe eher als konservative gestrige abgetan werden - "Sollen tanzen auch auf Gräbern".

Und dann eben ist dieses Feier-Konzept von Freiheit dem der "Die Kapelle, rum-ta-ta" und dem "Und was Süßes zum Dessert" gar nicht mehr so unähnlich. "Freiheit, Freiheit," ist eben immer noch "die einzige, die fehlt."

Der Mensch ist leider nicht naiv
Der Mensch ist leider primitiv