In Erwartung großer Dinge
Eigentlich
war es schon lange überfällig. Nach dem Motto "keine documenta
ohne kleinen Vorab-Skandal" ist pünktlich wenige Wochen vor
Beginn der weltgrößten Kunstausstellung der erste PR-Event über
die Bühne gegangen. Seit über einem Jahr schon tingelt die
documenta-Macherin Carolyn Christov-Bakargiev rund um die Welt, um den künstlerischen
Diskurs weltweit in Gang zu setzen. Oder in Gang zu halten, nur mit
dem Ziel, ihn in den 100 tollen Kasseler Tagen im Sommer 2012 zu Ende
zu bringen. Oder zu seinem Höhepunkt.
http://www.hna.de/documenta-13/documenta-leiterin-schockiert-ueber-skulptur-turm-elisabeth-2309812.html
HNA-Bericht vom 9.5.2012
Insider
der globalen Kunstszene werden seit geraumer Zeit mit
Diskussionsstoff und Diskursen versorgt. Seit einigen Jahren scheint es
zur guten Gewohnheit zu werden, die documenta weit vor der
eigentlichen Eröffnung in ausgesuchten Metropolen der Welt beginnen
zu lassen. Warum auch nicht, wer Kunst als permanente
Auseinandersetzung mit ihren Hervorbringungen verstehen will, der
wird sie sicher nicht auf 100 oder 150 Tage in Ausstellungsräumen
einsperren und der Betrachtung zugänglich machen. Leider aber
verfährt man gerade so mit dem Ort des Geschehens, dem
beschaulichen Kassel und seinen 200.000 documenta-erfahrenen
Einwohnern. Sie bleiben und blieben weitgehend unbehelligt. Selbst
umfangreiche geheimnisumwitterte Erdarbeiten im örtlichen
Parkgelände an der Fulda erregten nur mildes Interesse der Kasseler,
als geübte Kunstgastgeber seit 1955 an Geheimnisse und Rätsel rund
um die Ausstellung gewohnt. Abwarten und sich überraschen lassen!
lautet die Devise und damit haben die Kasseler ein
distanziert-besitzergreifendes Verhältnis zu ihrer documenta
aufgebaut.
Aber
rgerade dies, die durchaus liebevoll gemeinte besitzergreifende Geste
der Bürger ist es, was immer wieder auf Ablehnung oder Desinteresse
der jeweiligen documenta-Leitung stößt. Catherine David, documenta
X-Chefin, hatte dies auf die Spitze getrieben, in dem sie per
Interview den Kasselern einen sehr kritischen Spiegel vorhielt und
ihrem Missfallen am städtebaulichen Zustand der Stadt zum Ausdruck
brachte. Ihre Nachfolger vermieden solche offenen Äußerungen und
blieben in höflichem Abstand zum Kasseler Alltag.
STERN-Bericht zum Thema vom 9.5.2012
Und
nun also hat es ausgerechnet die katholische Kirche mit Sitz im
frommen Fulda vermocht,
sich
den heiligen Zorn der Ausstellungsmacherin Carolyn
Christov-Bakargiev
zuzuziehen.
Was war geschehen? Das Bistum Fulda hatte im Zusammenwirken
mit einer Kirchengemeinde, deren Sitz direkt am Friedrichsplatz,
zentraler Spielort der documenta in der Kasseler City, liegt, eine
der bekannten, allgegenwärtigen Holzskulpturen des aus Nordhessen
stammenden Künstlers Stephan Balkenhol in einen Kirchturm platziert.
Traurig und zornig zugleich meldete sich die Kuratorin öffentlich zu
Wort, in einer eigens einberufenen Pressekonferenz bemühte man sich,
dem gerechten Zorn Luft zu verschaffen, auch wenn man nicht als
Zensor auftreten wolle.
Dominanz oder Nicht-Dominanz?
Da
steht also nun also der anonyme Holzmann, hoch über dem Platz auf
einer goldenen Kugel, breitet seine Arme aus und gibt keinerlei
Auskünfte über den Grund seines Dortseins. Dominiert er von dort
oben den Platz und beeinträchtigt tatsächlich das Nutzungskonzept
des Platzes durch die documenta? Kassels Bürger sind in der
Beurteilung dieser Frage durchaus uneins. Eine Tendenz war jedoch
deutlich spürbar, das Unverständnis für die harsche Reaktion der
documenta-Leitung und das Gefallen an der Balkenhol-Skulptur hoch
droben. Sei es wie es sein, gegenwärtig ist nicht bekannt, ob und
wie die Diskussion darüber ihren Fortgang nehmen wird. Deutlich wird
aber an diesem Konflikt, die auch nach 57 Jahren seit ihrer Gründung
bestehende Asymmetrie im Miteinander von Weltkunst und Provinzbühne.
In dem Maße wie vor allen in den letzten 20 Jahren das Interesse,
ja, die Zuneigung der Kasseler zur documenta deutlich gewachsen ist,
so klar ist, dass sich der Welt größte Kunstausstellung mit zuletzt
700.000 Besuchern, schwer tut mit ihrer Heimatstadt. Nun mag Kunst ja
wirklich heimatlos sein, muss es ja vielleicht auch, um ihren
universellen Anspruch zu wahren und ihre allumfassende
Wirkungsmöglichkeit nicht im nordhessischen Habichtswald zu
verlieren, aber die Entstehung der Ausstellung gerade im vom Krieg
grausam zerstörten und im deutsch-deutschen Herrgottswinkel nach der
Teilung wieder aufgebauten ehemaligen Residenzstadt ist ein wichtiges
Stück neuerer deutscher Geschichte. Hier versuchte Arnold Bode an
die Kunst der Gegenwart anzuknüpfen, von den Nazis verlorengegebenen
Kulturterrains wieder zurück zu erobern und die Deutschen in die
Kunstgeschichte zurückzuholen.
Unerwiderte Liebe
Dies
ist in 57 Jahren eindrucksvoll gelungen und darauf sind alle
Kasseler, egal wie nah sie dem Thema Kunst stehen, zurecht stolz.
Gerade deshalb empfinden sie das Wirken mancher Kunstexperten und
deren Umgang mit ihrer Stadt so kränkend und enttäuschend. Es ist
die meist unerwiderte Liebe der Bürger zur documenta, die immer
wieder solche Probleme entstehen lässt wie nun mit der einsamen
Figur im Kirchturm. Kassel ist sich sehr wohl bewusst, welche
segensreiche Wirkung die documenta als Zuschauermagnet hat und wie
wichtig sie für das Image der notorisch bespöttelten Stadt in der
Mitte Deutschlands ist. Niemand aber möchte aus der documenta ein
Kunst-Oberammergau machen, in dem alle Kunstlehrer und Hobbymaler der
Region ihren Platz haben sollen. Kassel wünscht sich fast nichts
mehr, als auf der langen Reise durch die aktuelle Geschichte der
Kunst und entlang ihrer exemplarisch ausgewählten Exponate nicht
aufs Strafbänkchen verwiesen zu werden, weil der Sachverstand fehlt.
Vielmehr möchte man als vollwertiger, wertgeschätzter Gastgeber die
Gunst der Nähe genießen und sich von der Kunst und der Diskussion
darüber beeinflussen lassen. Nicht zuletzt deswegen sind viele
Ausstellungsstücke gewesener documenta-Präsentationen in der Stadt
geblieben und prägen das Stadtbild auf besondere Weise.
Kassel mit offenen Armen
Vielleicht
wirkt sich ein verwegener Kniff der Austellungsmacherin ja als
wichtiger Schritt in die richtige Richtung heraus: Führungen werden
in der Mehrzahl von eigens geschulten Kunst-Laien, den Wordly
Companions, durchgeführt, von denen viele aus der Region stammen.
Warten wir doch einfach mal ab, ob die Companions in der Lage sind,
die documenta die documenta näher an Kassel heranzubringen. Dann
wird Kassel sie mit den offenen Armen empfangen, wie sie der
rätselhafte Mann im Glockenturm ja schon ausbreitet.
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