Aus dem Zusammenhang gerissen
Aus: ÖKONOMIE Einstürzende Altbauten von Uwe Jean Heuser
In DIE ZEIT, 19.4.2012 Nr. 17
… Hier
der Wirtschaftswissenschaftler, dort
die Wirklichkeit:
Zeitlebens regte sich Galbraith über Kollegen auf, die so taten, als
funktioniere die Welt wie der Markt für Kühlschränke in geordneten
Bahnen und brauche keine Regeln. Sie ignorierten Finanzblasen, weil
sie in ihren Modellen nicht vorkamen, oder wollten nicht wahrhaben,
dass es in der Marktwirtschaft nicht bloß um Konkurrenz, sondern
auch um Macht und Ohnmacht der Konzerne und des Staates geht. ...
Das
Besondere im Jahr fünf der Finanzkrise: Die
Kritik kommt aus dem Herzen des Establishments.
Früher argumentierte der Schweizer Chef des Hamburger
Weltwirtschaftsinstituts oft marktliberal, heute schwört Thomas
Straubhaar öffentlich den alten Weisheiten ab und verlangt, dass die
Ökonomen eng mit Historikern, Psychologen oder Umweltforschern
zusammenarbeiten. Auch der amerikanische Präsident des Kieler
Instituts für Weltwirtschaft hat genug von der alten Theorie. Dennis
Snower will jetzt in einem großen Projekt erforschen, was Menschen
wirklich motiviert – und mit den Ergebnissen die wirtschaftliche
Entwicklung besser erklären.
… Und
doch ließen die Reformatoren nie locker. Lange vor der Krise
erklärten Spitzenforscher das Auf und Ab der Finanzmärkte mithilfe
von ansteckenden Emotionen wie Euphorie und Angst, und ihr Vorreiter,
Robert Shiller aus Yale, war einer der wenigen, der die Krise
wirklich kommen sah. Auch die selbst ernannten »libertären
Paternalisten« um Richard Thaler aus Chicago fanden viel Gehör.
Ihre Botschaft: Menschen sind mitunter nicht gut darin, ihr eigenes
Interesse zu verfolgen, da kann der Staat mit psychologisch
ausgeklügelten Signalen den Weg weisen und dafür sorgen, dass sie
beispielsweise mehr Geld fürs Alter zurücklegen oder sich richtig
versichern.
… Doch
eines ist wahr: Krisen sind der Turbo in der Weiterentwicklung des
ökonomischen Denkens. Manchmal ist es auch nur ein Moment. So
verweigerte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im
Frühling 2009 seine Konjunkturprognose, weil die Wirklichkeit
Kapriolen schlug, die das Modell einfach nicht vorsah. Ehrlich war
das schon, aber was ist eine Wissenschaft wert, die ausgerechnet dann
nichts erklären kann, wenn es besonders spannend wird?
Jetzt
kommt also alles zusammen, was die Reformation braucht: der Zweifel,
das Geld, die Thesen. Die Aufgabe hat George Soros so schön benannt.
Die Ökonomen müssten »den Wandel selbst erforschen«, sagte der
Geldgeber. Bisher haben sie den Zustand der Wirtschaft weitaus besser
erklärt als deren Veränderung, die sich oftmals selbst
beschleunigt. Genau da kommt der Mensch ins Spiel, der mal gierig
nach Geld strebt und mal für Gerechtigkeit einsteht – der ganz
normale Mensch, der nicht alle Eventualitäten wie ein Computer
vorherberechnet, sondern sich von der Euphorie anderer anstecken
lässt oder sie selbst entfacht.
… Jetzt
zählt es also für die Ökonomen. Gefahren lauern an jeder Ecke. Im
Elfenbeinturm, aber auch außen. Da warten Gegner, die der alten
Ideologie gleich eine neue entgegensetzen wollen. Mehr Ethik, so
fordern sie – und meinen mehr Umverteilung. Weniger Ökonomismus,
sagen sie – und hoffen darauf, dass ihre eigene Disziplin wieder
mehr gehört wird. Egal, von welcher politischen Seite sie kommen,
solche Kritiker verwehren der Ökonomie die
so wichtige
Phase des Suchens.
Aus Ritual der Woche "Wogegen willst du manifestierön?" von Maxi Leinkauf
in
Der Freitag
30.04.2012
Warum gehen junge Leute am 1. Mai Steine werfen? Und warum lassen sie es irgendwann sein? Eine Erinnerung
… Am
Abend vor dem 1. Mai rief er an. „Wollen wir morgen ins Café,
schön frühstücken?“ Frühstücken? Ein schlechter Scherz,
dachte ich. …. „Du kannst am 1. Mai seelenruhig in einem Café
herumsitzen?“, sagte ich. „Was machst Du denn? Steine werfen?“
Es sollte ironisch klingen. Was sollte ich antworten? Ja?
Er
würde mich nicht verstehen. Ich spürte, uns trennten Welten.
...Als
die ersten Walpurgisfeuer flackerten, zeigte uns ein Freund, in
welchem Hof er Steine versteckt hatte, für die Demo am nächsten
Tag. Die Steine passten in unsere Jackentaschen. Ich hatte die
Räumung der Mainzer Straße 1990 miterlebt. Ich wollte gewappnet
sein. Womöglich wollte ich auch Eva beeindrucken, mit der ich damals
in einer WG wohnte. Sie kam aus Schweden, studierte Biologie und las
Charles Dickens. Sie fand diese Stimmung im Ostberlin nach der Wende
seltsam aufgeladenen. „Alle sind hier so verrückt“, sagte sie.
„Und wogegen willst du manifestierön?“ Ich überlegte. Erzählte
ihr was von den „Bullen“, von gewaltsamen Übergriffen (die
kannte ich ja aus dem Fernsehen, von Krawallen in Kreuzberg). Anstatt
auf die dekadente Love-Parade gehe ich eben lieber für was
Sinnvolles auf die Straße, sagte ich. Eva nickte stumm.
Eva
und ich gehörten zusammen, aber wir wollten nirgends dazugehören.
Keine organisierte Gruppe bilden, so wie die alten Kämpfer in
Westberlin. Wir sahen uns als Individualisten, fern politischer
Programme, wir fühlten nur eine innere Abwehr. Das Land veränderte
sich so schnell, es wechselte seine Richtung. Nur wir fanden unsere
nicht. Oder wollten sie nicht finden.
Das
ist mehr als zehn Jahre her. Eva und ich wohnen längst nicht mehr
zusammen, aber sie schwärmt manchmal noch von dieser „Anarkie“
im wilden Osten. Sie fehlt mir auch. Aber irgendwann schienen mir die
Möglichkeiten der neuen Welt größer als der Verlust der alten. Ich
träumte vom Studium in Paris, von Praktika bei guten Zeitungen. Auf
einmal gab es einen Plan. Ich wollte ankommen, meinen Platz in der
Gesellschaft finden, nicht draußen sein. Also fing ich an, mich
anzupassen.
Vor
ein paar Tagen rief mich ein Typ an. Ob wir nicht am 1. Mai
rausfahren könnten. Aufs Land. Und später gemütlich irgendwo
Kaffee trinken gehen. Ich zögerte. Schöne Idee, sagte ich dann.
Aus
„Früher
konnten wir nur träumen“ Wie
verändern die Kinder des Internets die Politik? Oberpiratin Marina
Weisband im Gespräch mit Jakob Augstein
in
Freitag-Salon
| 27.04.2012
Jakob
Augstein: Frau Weisband, macht Politik Spaß?
Marina
Weisband: Ja,
riesigen Spaß. Wenn man sie nicht klassisch betreibt.
Wie
meinen Sie das?
Politik
hieß bisher, einen Anzug zu tragen, in ein Parlament zu gehen und
einen Antrag zur Geschäftsordnung zu stellen. Oder in einer Talkshow
darüber zu schimpfen, wie die anderen Parteien versagen. Deshalb
hatte ich früher auch kein Interesse, daran teilzunehmen. Erst
später habe ich verstanden, dass jeder ein Politiker ist, wenn er
versucht, die Frage zu beantworten: Wie mache ich möglichst viele
Menschen möglichst glücklich? Wir steuern gerade in die
Informationsgesellschaft. Das stellt uns vor einen Haufen Probleme,
weil wir aus einer Gesellschaft kommen, in der die Arbeitskraft die
Hauptressource ist. Jetzt aber rückt das Wissen in den Mittelpunkt –
und wir haben noch keine Ahnung, was Gerechtigkeit dann genau
bedeutet. Die Piraten haben begonnen, diese Frage zu beantworten.
Politik ist allerdings auch höllisch anstrengend.
Sie
haben einmal gesagt, Sie seien ein Kind des Internets. War das nur
ein Spruch?
Oh
nein. Ich bin Migrantin, ich stamme aus einer Sowjetrepublik, die es
nicht mehr gibt. Wo ich herkomme, aus der Ukraine, spricht man heute
eine Sprache, die ich nicht verstehe. In Deutschland fühle ich mich
immer noch nicht wirklich heimisch. Aber im Internet habe ich
ein Zuhause gefunden.
Das
ist für Sie mehr als ein Medium?
Das
Netz ist ein Raum, in dem ich zusammen mit anderen lebe. Die
Unterscheidung von real und virtuell mache ich nicht mit. Und jeder
Raum, in dem sich eine Gesellschaft bildet, ist politisch. ...
Irgendwann
aber muss doch jemand sagen, was Sie vertreten.
Geduld,
wir sind mit unserem Grundsatzprogramm noch nicht fertig. Ich bin
aber sicher, dass wir das bis zur Bundestagswahl hinbekommen. Sobald
wir diesen Orientierungsrahmen haben, können wir unglaublich fix auf
neue Situationen reagieren. Wir sind vernetzt, wir können in
Hochgeschwindigkeit Meinungen erheben und diskutieren. So kommen wir
schnell zu Positionen, die sich nicht so schnell ändern – weil sie
vorher von Tausenden Köpfen überprüft wurden. Das verschafft uns
einen riesigen Vorteil. Programme sind gar nicht so wichtig. Einmal
an der Macht, halten sich Parteien heute doch ohnehin nicht daran.
Viel wichtiger ist, wie eine Partei mit einer neuen Situation umgeht.
Und da haben wir bei den Piraten einen Prozess geschaffen, durch den
wir zusammen mit vielen zu einer guten Lösung kommen.
Ihr
zentrales Ziel ist die Liquid Democracy. Was ist denn das?
Eine
Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie. In einer
Liquid Democracy hat jeder eine Stimme, muss die aber nicht selbst
nutzen, sondern kann sie an andere Personen delegieren. An einen
Freund, einen Experten, dem er vertraut oder an einen Politiker. Sie
können Ihre Stimme auf Dauer delegieren oder für bestimmte Themen
oder auch nur für eine konkrete Abstimmung. Und wenn Ihnen nicht
gefällt, was in Ihrem Namen geschieht, können Sie die Stimme
jederzeit wieder zurücknehmen und selbst abstimmen.
Aus
Die Tricks der Verkäufer Das
will ich haben! von Marcus
Rohwetter
in
Die Zeit 20.04.2012 Nr.
18
Verkaufsprofis wissen, wie man Menschen führt und verführt. »Was du kaufst, bestimmen die anderen«, schreibt der Buchautor und Marketingfachmann Martin Lindstrom und folgert: Der Kauf als freie und bewusste Entscheidung am Ende eines rationalen Abwägungsprozesses ist eine Illusion. Wir kaufen nicht selten, was wir kaufen sollen. Wir bezahlen dann den Preis, den wir bezahlen sollen. Und sind am Ende überzeugt, das Richtige getan zu haben. ...
Stärker
denn je hängt unser Wohlstand am Kauf von Autos, Duschgels,
Wellnesswochenenden und Nudelsuppen. Die Wirtschaft will wachsen.
Ohne Shopping geht das nicht! Dabei fallen Entscheidungen über Kauf
und Nichtkauf oft binnen Millisekunden im Unterbewusstsein.
Reflexartig greifen wir nach dem einen Produkt und lassen das andere
liegen, sagen mal Nein und mal Ja.
Gute
Verkäufer wissen,
warum. Sie machen uns zu Jasagern. Immer wieder.
Inzwischen
weiß man auch, warum das so ist. »Ja zu sagen kann gravierende
Konsequenzen haben. Gleichwohl sieht es so aus, dass Menschen diese
Antwort nicht auf Grundlage von bedächtigen oder vernünftigen
Überlegungen geben«, bilanziert der Sozialpsychologe Jerry Burger
von der Santa Clara University. Statt der Vernunft lenken Heuristiken
unser Handeln, sogenannte mental
shortcuts. Das
sind tief im Unterbewusstsein verankerte Faustregeln, mit denen
Menschen seit Urzeiten ihren Alltag meistern. Dumm nur, wenn sie
instrumentalisiert werden, um uns zum Zahlen zu bewegen.
Robert
Cialdini erforscht diese Faustregeln seit Langem. Er leitete die
amerikanische Gesellschaft für Persönlichkeits- und
Sozialpsychologie und hat zahlreiche Arbeiten über die Abkürzungen
in unserem Hirn veröffentlicht. »Wir leben in einer außerordentlich
komplizierten Welt, zweifelsohne der schnelllebigsten und
komplexesten, die es je gegeben hat«, erklärt Cialdini. »Um sich
in ihr zu behaupten, brauchen wir Faustregeln – Möglichkeiten,
rasch, ohne Umwege und langes Überlegen zu reagieren.« Und diese
Regeln können sehr sinnvoll sein. Wir denken nicht nach, wenn wir
eine Tür öffnen, sagen Bitte und Danke und grüßen zurück, wenn
uns jemand grüßt. Wer auf Alltagssituationen automatisch reagiert,
spart Kraft, Zeit und Energie.
So
sind wir. Nicht alle, nicht immer, aber doch viele oft. Es ist
schwierig, dem Impuls zu widerstehen. Oder dem Diktat der Gruppe.
Wir
sind längst nicht so individuell, wie wir gerne wären. Wie sonst
ließe sich der Massenhype um Apple-Produkte erklären, mit denen
viele Millionen Menschen zugleich ihr individuelles Lebensgefühl
auszudrücken glauben? Was alle machen, muss richtig sein. Wie sehr
ähneln sich doch die typischen Ausreden ertappter Raser auf der
Autobahn oder von Nutzern illegaler Musiktauschbörsen im Internet:
Das machen doch alle!
Aus Höhenflug der Piraten Die guten Populisten Eine Kolumne von Jakob Augstein
In
SPON 30.4.2012
Populismus
ist Politik für Leute, die die Nase voll von Politik haben.
Populismus ist das Versprechen, die verschlungenen Pfade der Politik
zu verlassen und gerade Wege zu gehen. Die Piraten sind
eine populistische Partei. Aber sie lehren uns, dass es auch so
etwas wie einen guten Populismus geben kann. Einen, der nicht mit
Angst auf Stimmenfang geht, sondern mit Hoffnung.
Es
war nur eine Frage der Zeit, bis irgendwann auch in Deutschland eine
populistische Partei Erfolg haben würde. Die Nachbarn kennen das
Phänomen schon lange: Von Marine
Le Pen,
die den Rassismus des Front national subtiler verkauft als ihr Vater
und darum noch erfolgreicher ist, über den Niederländer Geert
Wilders,
der im Internet eine "Meldestelle für Störungen durch
Osteuropäer" eingerichtet hat, bis zu den homophoben
Rechtskatholiken in Polen und den Anti-Europäern in Dänemark und
Finnland.
Hoffnung
für die vernachlässigte Demokratie
Die
Piraten entlarven die Simulationen des Politikbetriebs. Sie weigern
sich, bestehende Spielregeln zu akzeptieren. Das ist ein wohltuender
Populismus, den sich die neue Partei da leistet. Wie in einem Reflex
fragen die auf herkömmliche Polit-Berichterstattung trainierten
Journalisten jetzt die Piraten-Standpunkte ab, vom Pflegegeld über
die Frauenquote bis zum Nahost-Konflikt. Aber der neue Parteichef
Schlömer fragt im Interview mit SPIEGEL ONLINE: "Muss
jede Partei zu allen politischen Themenfeldern dezidierte Positionen
vertreten? De
facto haben selbst Volksparteien kein
Vollprogramm."
Es
ist ein Missverständnis, von den Piraten jetzt Antworten auf alle
möglichen inhaltlichen Fragen zu verlangen. Sie wollen mehr als
Reformen. Sie wollen eine Reformation des politischen Prozesses.
Das
Risiko der vernachlässigten Demokratie besteht ja darin, dass ihr
auf Dauer die Demokraten ausgehen. Es kommen dann andere und nutzen
ihre Chance. Die Piraten machen Hoffnung, dass die Kräfte der
Enttäuschung in Deutschland nicht ins Ressentiment fließen. Sie
zeigen, dass Erneuerung der Politik nicht automatisch Berlusconismus
bedeuten muss - für den die Deutschen, siehe Guttenberg, ebenso
anfällig sein können wie ihre europäischen Nachbarn.
Aber
bei den Piraten gibt es keine Spur von Führerkult. Im
Gegenteil: Politische
Geschäftsführerin Marina Weisband,
Star der Partei, hat sich auf dem Parteitag in Neumünster
zurückgezogen, um ihr Psychologie-Studium in Münster fertig zu
machen, und die Amtszeit des Parteichefs bleibt auf ein Jahr
begrenzt.
Die
Wirklichkeit spaltet sich
Die
Piraten sind naiv, idealistisch, romantisch. Umso besser. Sie sind
eine deutsche Antwort auf die Politikverdrossenheit, die ein Risiko
der modernen Gesellschaft ist. Diese Verdrossenheit findet ihre
Ursache in einer moralischen Entkräftung des Systems. Die
Institutionen funktionieren. Aber die Werte, für die die
Institutionen stehen sollen, verlieren ihre Bedeutung. Die
Wirklichkeit spaltet sich.
Die
etablierten Parteien haben vergessen, was der Soziologe Oskar
Negt gelehrt
hat: Demokratie ist mehr als Machttechnik.
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