Sonntag, Oktober 14, 2012

Weißt Du was...? (Macht nix, Vol 2)


Wissen, Nicht-Wissen und die Differenz aus beidem.
Von der nicht-akademischen und der Nicht-Fachwelt weitgehend unbemerkt hat sich im Januar diesen Jahres das Institut für angewandtes Nicht-Wissen aufgelöst, beziehungsweise ihren Geschäftsbetrieb aufgegeben. Auch wer die Existenz des Instituts während der vorgeblich 15 Jahre seines Bestehens konsequent nicht zur Kenntnis genommen hat, kann angesichts des Zustandes der Welt und der zunehmend schwieriger werdenden Orientierung in ihr diese Tatsache nur bedauern. Ganz ohne Zweifel besteht grundsätzlich der Bedarf fort, über die Ursachen, die Rechtfertigung und/oder Phänomenologie des neuzeitlichen Nicht-Wissens nachzudenken. Gerade weil wir doch in der Epoche des Wissens, wenn auch nicht in der des Verstehens leben.

Zugegeben, im ersten Ansatz klang das Interesse an einer Theorie oder gar einer Philosophie des Nicht-Wissens mehr nach Satire und Ironie. Möglicherweise bleibt es das am Ende auch, wenn man die Folgenlosigkeit und mangelnde Bedeutung der Beschäftigung mit diesem Thema betrachtet. Allerdings mag dies einerseits auch nur dem üblichen Übertreibungsgestus der Medien und des Marketings geschuldet sein, andererseits dem Anspruch einer verantwortlichen Kaste, der Politik, deren größtes Kapital die Glaubwürdigkeit in allen existentiellen Fragen eines Gemeinwesens, einer Nation oder einer Staatengemeinschaft ist. Ebensowenig wie grundsätzlich der Zweifel noch eine Tugend des denkenden Individuums ist, ebensowenig ist das Nachdenken über die Möglichkeiten des Wissens und Nicht-Wissens als Grundlage für Entscheidungen allergrößter Tragweite zumindest beliebt.



Das Ergebnis ist eine gnadenlos positive und optimistische Konzentration auf die Anhäufung von Informationen, Daten, Forschung, Diskussion und Erprobung sowie Evaluation, mit Hilfe derer Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Prozess Schritt für Schritt gesteigert werden sollen. Dieser positivistische wissenschaftliche Begriff von Problemlösung hat in weiten Teilen der Gesellschaft Platz gegriffen und beherrscht als Denk- und Arbeitsmethode weitgehend das Terrain. Egal wohin man auch kommt, in der Wirtschaft, in der Politik oder in der Technik glaubt man mehrheitlich an die Funktionalität dieser Methode. Immer wieder entstehen Konflikte politischer oder gesellschaftlicher Art aus dem Aufeinanderprallen gegensätzlicher Überzeugungen genau in diesem Punkt. Wo Goethes Faust einst allerdings zu dem Schluss kam, "dass wir nichts wissen können!", eint Gegner und Befürworter bestimmter Projekte oder politischer Lösungsansätze meist die Überzeugung, dass dieselbe Methode immer auch das genaue Gegenteil beweisen könne, sofern man nur intensiv genug an seine Plausibilität und Seriosität glauben will.

Aus der Unerbittlichkeit dieser Konfrontation entsteht dann leider allzu häufig ein Wettstreit der Positionen und des demokratischen Wettbewerbs um Mehrheiten, weniger bis nie der wirkliche Respekt und die Achtung vor den Themen der Zeit, sei es Energiewende, Friedenspolitik, Kindererziehung, Gleichberechtigung, Gesundheitspolitik oder Bildung. Die Auswahl ist völlig beliebig. Eine Prise Respekt vor der schieren Dimension unserer Probleme würde einen angemesseneren Umgang mit ihnen ermöglichen und vielleicht auch bessere Ergebnisse und mehr Gelassenheit im politisch-gesellschaftlichen Diskurs ergeben.

Die Frage, was die Philosophie des Nicht-Wissens an dieser Stelle Positives bewirken könne, außer für ein paar Momente der Heiterkeit zu sorgen, stellt sich dennoch. Nicht-Wissen ist keine Disziplin im eigentlichen Sinne, es ist auch keine Theorie, der man anhängen könnte, um sich das Leben, materiell wie intellektuell, erträglicher zu machen. Die Theorie des Nicht-Wissens ist nichts, was in den Grabenkämpfen der Politik irgendeine alltägliche Relevanz hätte. Sie ist auch kein Instrument der Polemik gegen alle, die in der Gesellschaft in Verantwortung stehen und dabei Fehler machen oder versagen.

Eine Theorie des Nicht-Wissens könnte und sollte jedoch die Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung präzisieren und uns der Beantwortung der Frage näher bringen, wann wir einer veranwortbaren Problemlösung am nächsten gekommen sind. Dies führt automatisch eine ethische Komponente in die Überlegungen mit ein, weil der Anspruch der Unfehlbarkeit einer Methode, der Perfektion der Erfassung der Verhältnisse der Welt oder der Vollständigkeit der Daten zu einem wichtigen Themenkreis in Frage gestellt werden muss. Woher wir das wissen? Die Erfahrung sollte uns gelehrt haben, dass die Komplexität mancher Probleme und die Dynamik mit der manchmal einander widerstreitende Kräfte auf einander treffen, Ergebnisse zeitigen, mit denen bei aller Gründlichkeit der Vorüberlegungen so gerechnet werden konnte. Die Natur (El Niño, Tsunami, Tornados), die Gesellschaften (Religionsgegensätze, Integrationsprozesse, Demographie) oder die Politik (Kriege, Radikalismus, Krisen) haben uns gezeigt, dass es wichtig ist, Entscheidungen nicht nur auf ihre Folgen hin abzuschätzen, sondern sie möglicherweise auch nicht oder nicht so zu treffen, weil wir nicht wissen, was wir nicht wissen, um ein vollständiges Bild der Lage zu haben. Vielleicht wäre gelegentlich klüger oder mehr angebracht, die Lage zu ändern, die Voraussetzungen für eine Entscheidung zu beeinflussen, statt bedingungslos das Faktische zu akzeptieren und es ausnahmslos für wahr zu halten. Auf jeden Fall aber für wahrer, als den noch nicht hergestellten alternativen Zustand der Welt.


Das Nicht-Wissen ist mit dem Wissen unlösbar verbunden. Die Dialektik von neuem Wissen und neuen Unsicherheiten und Fragestellungen, die eben daraus resultieren, ist nicht aufzuheben. Jede Entscheidung löst zwar zunächst ein Problem, beziehungsweise stellt eine Antwort auf eine sich stellende frage dar, verändert jedoch den ist-Zustand so signifikant, dass eine völlig neue Situation entsteht, in der völlig neue Aggregatzustände und Balancen bestehen. So schaffen wir uns mit jeder neuen Entscheidung nicht etwa eine befriedete, harmonische Situation, sondern vielmehr eine neue, in der wir völlig neu, von vorn beginnen müssen, sie zu bewerten und unser Maß an Nicht-Wissen neu zu bestimmen.

Man kann also den Zustand des Nicht-Wissens nicht beenden, nicht aufheben, nicht beseitigen. Nicht-Wissen ist eine wichtige Voraussetzung für den Erkenntnisprozess, wobei wir nicht wissen können, was wir nicht wissen, solange wir den Tatbestand nicht eingehend genug untersucht haben. Jeder Erkenntnisschritt ist auch rückwirkend die Antwort auf die Frage "was wissen wir nicht?" anders wird sie redlicherweise nicht zu beantworten sein. Während wir an der Schaffung von Wissen arbeiten, rechnen wir damit, dass sich weitere Faktoren bilden können, von denen wir erst im Falle des Scheiterns, des Versagens, des Verfehlens Kenntnis erlangen oder eine Ahnung bekommen.
Unser mögliches Nicht-Wissen als nicht ergründbar zu ignorieren ist uns auch deshalb unmöglich, weil seine Folgen unter Umständen in katastrophalen Ergebnissen und desaströsen Erfahrungen zu Tage treten können. Beinahe tragisch mutet dabei an, dass die Aussicht, sich mit vielen Menschen zu verbinden, um den Folgen des Nicht-Wissens zu entgehen, nicht fruchten, weil das Problem von der schieren Zahl der Denker und Planer nicht außer Kraft gesetzt wird. Sicher ist die intellektuelle Brillanz, die Geistesgegenwart, Erfahrung und das reine Wissen über eine Sache wichtig, individuelle Klasse, ja, aber angesichts der unbekannten Dimension der Probleme fällt es schwer festzulegen, welche Erfahrung, welches wissen erforderlich wäre, um eine Lösung zu erreichen.

Sokrates Fotos: pixelio.de/
D. Schütz/G. Altmann/pan
Dies erläutert, weshalb die Fehlerhäufigkeit und die Störungsanfälligkeit all unserer Systeme, ob technisch, politisch, wirtschaftlich oder kulturell diesen Phänomenen unterliegen. Die Erfahrung zeigt, wie schnell schon einfachere Sachverhalte wie der Bau von Straßen, Häusern oder technischen Geräten im Fiasko enden kann. Perspektivisch bedeutet dies jedoch, dass wir mit den Problemen einer unplanbaren Zukunft und dem unvermeidbaren Auftreten von Fehlerquellen weiter werden leben müssen. Nicht-Wissen ist unserem Leben und Denken eingegeben, nicht aufhebbar, durch kein Bildungsprogramm beendbar. Allein der Austausch über Fragen und Probleme, Erfahrungen, Theorien, Experimente können die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Nicht-Wissen negativ auf den Erfolg auswirkt, mindern. Wir sind also auf Gedeih und Verderb auf einander angewiesen, nicht nur im unmittelbaren persönlichen Bereich, sondern auch global, geopolitisch, weltweit. Die Beherrschung der Nukleartechnologie beispielsweise kann angesichts ihrer möglicherweise katastrophalen Wirkungen nur gemeinsam gelingen. Klimaschutz, Umweltpolitik, Arbeitslosigkeit, Krisenbewältigung - kein Thema ist so klein, dass es nicht der globalen Zusammenarbeit bedürfte.

Nicht-Wissen ist also zum einen eine reale Tatsache und zum anderen kein Problem, das man lösen konnte. Unser gesamtes Wissen ist daher auch eher der geringere Teil dessen, was wir wissen könnten oder müssten, um uns in der Welt zurecht zu finden. Fortschritt bedeutet nur ein wenig mehr Licht im Dunkel des Wissens um uns herum, in dessen Schatten sich weitere Fragen verbergen. "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Sokrates hat es gesagt, vor mehr als 2200 Jahren und hat bis heute recht behalten. In Zeiten, in denen wir geneigt sind, Wissen durch Glauben und Glauben durch Nützlichkeitsdenken zu ersetzen, wäre eine vermehrte Einsicht in unsere beschränkten Möglichkeiten wünschenswert. Und dann,ja dann ist da erst noch die Sache mit dem Verstehen. Aber dies ist eine andere Geschichte....

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