Sonntag, September 16, 2012

Die documenta ist zu Ende - Es lebe die documenta!

documenta13-Merchandisingerinnerungsbecher Fotos: Ruß


Pünktlich zum Ende der documenta 13 haben meine schönen documenta13-Merchandisingerinnerungsbecher ihren Geist aufgegeben und ihren Dienst eingestellt. Am Tag 96 der Weltkunstausstellung standen sie gefüllt mit heißem Kaffee vor mir und entledigten sich still und leise durch unsichtbare Lücken meines Morgengetränks. Natürlich, dies ist ein typisches Einzelschicksal, auf das keine weitere Rücksicht genommen werden kann. Und doch reizt es am Ende der 100 Tage von Kassel darüber nachzudenken, was bleibt und ob die Bereicherungsstrategie trotz dieses herben Verlustes gelungen ist. 
  
Der Baum der Erkenntnis trägt keine Früchte
documenta-Zyklen und documenta-Ritual 
Der Sommer war voll mit documenta. Kassel war voll mit documenta. Die Stadt platzte bisweilen fast aus den Nähten vor lauter documenta-Gästen und documenta-Kunst. Eine Erfahrung, die der gemeine Kasseler Bürger, so er denn schon länger als fünf Jahre in der Stadt wohnt, in ähnlicher Weise schon öfter gemacht hat, wenngleich der zu erwartende Besucheransturm von 2012 so noch nie dagewesen ist. Der Kasseler Bürger ist jedoch vertraut mit den documenta-Zyklen und dem documenta-Ritual, das ihn dazu verdammt, alle fünf Jahre Zaungast einer Veranstaltung von Weltgeltung zu sein, die kommt und geht, öffnet und schließt, wie es ihr, und vor allem ihr, gefällt, die mit samt ihrem Personal und Potential weiterzieht und sich anderswo auf dem frisch in Kassel erworbenen Lorbeer ausruhen wird. In Kassel erworben? Als Ortsbezeichnung mag dies zutreffen, als Urheberfeststellung weniger. Die Urteile über das Gelingen und Scheitern der Ausstellung fällen die Kritiker und Besucher aus aller Welt, ein wahrhaft globales Gremium mit Kompetenz und Lust am Schauen und Reisen, deren Ziel nur zufällig die Nordhessenmetropole war, in der seit 57 Jahren die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst stattfindet. 


Das Gespenst der Globalisierung ist kopflos
Freundlicher Gastgeber 
Kassel war ein freundlicher Gastgeber, bemüht und routiniert, bisweilen enthusiastisch, gelegentlich genervt. Weiträumige Ausstellungsarrangements und dennoch kurze Wege von einem Ausstellungskatalog zum anderen - was will der Kunstliebhaber mehr? 
Und doch bleibt dieses Kassel auch ein widerspenstiger Ort, für ein Kunsterzeugnis dieser Rangordnung. Catherine David hat vor fünfzehn Jahren bereits das Stadtbild und die Ergebnisse der Stadtentwicklung 50 Jahre nach Kriegsende gebührend kritisch gewürdigt und sich redlich bemüht, keinen Fettnapf auszulassen und den Kasselern bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Füße zu treten. Und doch hat sie die Achse vom Hauptbahnhof zur documenta-Halle als eine der wichtigen Gestaltungs- undOrdnungselemente ihrer Ausstellungskonzeption entdeckt und genutzt. CCB hat dies wieder aufgegriffen und noch einmal verstärkt, indem sie Zerstörung und Wiederaufbau als ein Motto der Ausstellung wählte. Sie riskierte diesen wahrhaftigen Anachronismus, der durch die Arbeitshypothese entstand,dass es Verbindungslinien geben könnte zwischen einer Stadt, die durch den Nazi-Terror und den Weltkrieg so schwer um ihr kulturelles Erbe und ihre historische Identität betrogen worden ist, und der Stadt Kabul im fernen Afghanistan, das seit mehr als 25 Jahren um seinen Frieden und vielleicht auch um seine Zukunft gebracht worden ist. 

Und so wurde das verwundete Kassel, dessen Narben nicht heilen wollen, das sich erinnernde Kassel, das das Leid, das ihm zugefügt wurde, nicht vergessen kann und will, ein Teil des Leitmotivs der Ausstellung innerhalb seiner Mauern. Zu fragen ist, ob dabei die Leistung des Wiederaufbaus und der sogenannten Vergangenheitsbewältigung gemeint war oder das nicht enden wollende Leiden und Erinnern an das untergegangene Kassel des Jahres 1944.
Die Welt im Spiegel
 Zu fragen ist auch, ob die Art und Weise, wie man aus dem Schmerz und den vernichtenden Schlägen des Krieges den Weg in eine Zukunft fand, thematisiert werden sollte. Städtebaulich ist die Wiedereroberung des verlorenen Schatzes offensichtlich nicht gelungen. Die spröde Schönheit der 50er Jahre Baukunst erschließt sich nicht jedem. Die Erinnerungskultur und die überzeugte Lebenshaltung des "Nie wieder!" sind starke, prägende Kräfte für die Gesellschaft der Stadt. Nicht zuletzt ist die documenta selbst ein wesentliches Ergebnis eben dieser Kräfte, beziehungsweise der Kraft und der Überzeugung des Gründers der documenta, Arnold Bode. Mit einigem Recht könnte man sagen, dass die documenta ein solch bedeutendes Projekt der Vergangenheitsbewältigung gewesen ist, dass sie kaum etwas Anderes von Bedeutung zugelassen hat. Etwas Vergleichbares sowieso nicht, aber auch kaum etwas Anderes, was auf niedrigerem Niveau, mit weniger großer Geste, den Weg zurück in die Zukunft hätte weisen sollen. 
Der Talk - das weiße Rauschen
So war die Stadt, beziehungsweise ihre Geschichte Stichwortgeber für die dreizehnte Ausgabe der wichtigsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Man hat ihr die barocken Gärten und Flächen zur Nutzung überlassen, man hat sich bereit erklärt, sich für 100 Tage auf die Zeitrechnung der documenta einzulassen, danach aber wird wieder der Kasseler Alltag einkehren. Die Barockanlagen werden wieder in ihren Originalzustand zurück versetzt und die Spuren der documenta, wo es verlässlich geht, weitgehend getilgt. Hier und da werden Kunstwerke zurückbleiben und Zeugnis davon ablegen, was die documenta 13 auch gewesen ist.

Kunst beim Wort genommen
Der Baum der Erkenntnis und
Sisyphos' Stein
So handhabt man es in der Stadt. Man wählt Kunstwerke aus, die bleiben sollen und die künftig ihren Teil dazu beitragen werden, das Stadtbild oder die Kunstsammlungen zu prägen. Wenn es ihnen denn gelingt und wenn es ihnen denn erlaubt wird. Denn so mutig die Ausstellungsmacher während der 100 Tage Ausnahmezustand in der Stadt und den jahrelangen Vorbereitungen auch sind, so bedächtig und ausgewogen geht man in der Folge damit um. Die Veränderungen bleiben moderat, die verbleibende Kunst irritiert nicht zu sehr. Kassel hat die documenta13 aufgebaut und wird sie wieder zerstören, sie wird sie museal zugänglich machen und mit ihren kreativen, verstörenden, fragenden und kritisierenden Anteilen wieder normaleren Umgangsformen zuführen. Kassel, soviel steht auch nach der 13. documenta fest, wird sich ziemlich unbeeindruckt von den Anregungen der Künstler zeigen. Ihre Beharrungskräfte haben sich bisher allemal stärker gezeigt, als ihre Kraft oder ihre Entschlossenheit zu kreativer Zerstörung und destruktivem Aufbau. Erstrebenswert wären neue Möglichkeiten, die Impulse der Kunst produktiv aufzunehmen und als bleibende Kraft in die Kasseler Gesellschaft und Kultur einzufügen. 

Was soll ich nun mit den ihrer eigentlichen Funktionalität beraubten documenta-Kaffeebechern tun? Zum Kaffeegenuss am Morgen taugen sie nicht mehr. Als Metapher auf die Vergänglichkeit der Kunst sind sie nicht geeignet, weil der Vergleich ein Klischee wäre und die Becher Teile des Merchandising, nicht der Ausstellung sind. Zum Wegwerfen sind sie auch ohne ihre Funktion immer noch zu schön anzusehen. Also werde ich sie zunächst im Schrank aufbewahren, wo sie deutlich sichtbar die nächsten Jahre nutzlos herumstehen werden. Sie werden dort nutzlos herumstehen wie die Blechdose der documenta11, die Tasse der documenta12 und die kleine Fahne der documenta10. Sie stehen dort und greifen nur selten in meinen Alltag ein. Sie erfüllen keine Funktion mehr, sie erinnern nur an etwas, was die Stadt und mich als ihren Bürger einmal sehr interessiert und bewegt hat. Und so erinnern sie mich an die Kunst in diesen aufregenden, aufgeregten Sommern und an mich, der sich redlich bemüht hatte, zu verstehen und zu behalten. Sie erinnern mich an die Fremden, denen ich den Weg zeigen konnte, an die Vielen, mit denen ich in der Warteschlange ins Gespräch kam, und an die vielen vielen anderen außerhalb von Kassel, denen ich von der Bedeutung der documenta erzählt habe und die möglicherweise doch nie zur documenta gekommen sind. Vielleicht ja auch gerade wegn meiner Werbung, wer weiß. Und schließlich sollen mich all diese verstaubten Devotionalien daran erinnern, dass mich die unzähligen Sichtweisen und Interpretationen, Experimente und Meisterwerke, Katastrophen und Skurrilitäten in meinem Denken einmal ein winziges Stück verändert haben. Und dass diese winzige Veränderung gut war. 
Die documenta ist zu Ende. Es lebe die documenta.

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