Samstag, Juli 14, 2012

Von der Kraft der Toleranz im Lichte der Gegenwart und im Widerschein der Zukunft unter besonderer Berücksichtigung unserer Aufklärung


  1. Was kann ich wissen?
  2. Was soll ich tun?
  3. Was darf ich hoffen?
  4. Was ist der Mensch?    Immanuel Kant


Die Gesellschaft und ihre Normen sind ebenso wenig statische und in Granit gehauene Gebilde wie es die öffentliche Meinung ist. Gegenwärtig wird noch eine Diskussion geführt, in der die ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft scheinbar aufs Äußerste gefordert werden und die eine Diskussion hervor rief, die sich mehr und mehr begann im Kreise zu drehen, weil es offenbar keine Möglichkeit gab, inne zu halten und sich zu vergewissern, auf welcher ethischen Grundlage diese Debatte eigentlich geführt werden sollte.


Awareness-Kampagne von kurzer Dauer
Das Kölner Urteil über die Zulässigkeit des Beschneidungsrituals in den jüdischen und muslimischen Gemeinschaften hat quasi über Nacht eine Debatte ins Leben gerufen, die je länger sie dauerte an ihrer eigenen Richtungs- und Überzeugungslosigkeit drohte zu scheitern. Deshalb ist es vordergründig auch gut, dass diese Debatte eine der medial gelenkten Awareness-Kampagnen kurzer Dauer war und somit langfristig größerer Schaden vermieden werden kann. Dennoch bleibt die Frage, was langfristig mit diesem und anderen Themen wird, wie sich unsere Gesellschaft, die Gesellschaft in Deutschland, Anfang des 21. Jahrhunderts, mit all ihren Widersprüchen, Forderungen, Traditionen und Modernismen lebendig, lebens- und schützenswert erhält. 

Es mag eine tragische Besonderheit der deutschen Geschichte sein, dass nach den philosophischen Höhepunkten des 18. und 19. Jahrhunderts am Ende erst zwei verlorene Weltkriege dazu führten, endlich eine funktionierende Demokratie zu installieren, die auf dem Fundament der europäischen Aufklärung fußt. Der zeitweilige Ausstieg der Deutschen aus der zivilisatorischen Weiterentwicklung und der Rückfall ins Barbarische vor und während des Dritten Reiches sollte uns gelehrt haben, welche Richtung eine Gesellschaft nehmen kann, deren ethischer Konsens nicht konsistent ist. 
Heute kämpfen wir mit ganz anderen Problemen und mit ganz anderen Mitteln, natürlich. Und die Erinnerung an die Schande der Nazizeit bedeutet nicht, dass damit alles, was heute getan oder unterlassen wird, sofort in einen Zusammenhang damit gebracht wird. Vielmehr geht es in diesem Zusammenhang um die bürgerliche Klasse, die als gesellschaftliche Elite der Werteformulierung und ihrer Orientierung sowie der Durchsetzung in der Gesellschaft als Konsens, als Standard verpflichtet war und ist. Dass der sogenannte Wutburger fast 70 Jahre gebaucht hat, sich wegen eines einfachen Bahnhofsprojekt massiv selbst zu Wort zu melden und sich dabei auf seine Stärke als Bürgerbewegung zu besinnen, ist kein Ruhmesblatt, sondern unter dem Strich eher beschämend. Bezeichnenderweise ist diese Bewegung auch schon wieder am Ende und nur noch als Fußnote der Zeitgeschichte interessant. 

Die Frage, die sich anlässlich der aktuellen Ereignisse rund um das kölner Urteil diskutieren ließe, ist zum Beispiel, ob eine Gesellschaft sich ihre ethischen Standards aus dem Geiste des Strafrechts erstellen soll oder ob es dazu nicht weitere Möglichkeiten gibt und gab. Die Aufklärung, aus deren Geiste ja letztlich auch unser Strafrecht entstand, lehrte als Gegenbewegung zum Absolutismus Menschenrechte, Bürgerrechte und darin nicht zuletzt, aber besonders wichtig, Toleranz als Grundlage allen Zusammenlebens. Toleranz allerdings, die nicht gewährt wird, sondern die aktiv ausgeübt wird. Ausgeübt nicht vom Souverän, dem Bürgerkönig, sondern vom Bürger selbst als Souverän und Volk. Der Bürger wird sich seiner selbst bewusst und sorgt sich politisch und moralisch um sich selbst und seinesgleichen. In diesem Zusammenhang ordnet er seine Beziehungen zu allen Menschen, gleich welchen Glaubens, welcher Hautfarbe und welcher ethnischen Herkunft. All diese Werte sind im Laufe der Jahrzehnte zum rhetorischen Standard geworden, haben immer wieder herhalten müssen, um gesellschaftliche Diskussionen zu strukturieren. Die 60er Jahre waren die Wegmarke dieser Diskussionen um Bürgerrechte und Bürgerpflichten. Die Gesellschaft hat sich mit Hilfe dieser Diskussionen und Kontroversen ein hohes Maß an Freiheit und Rechten von der Politik zurück erstritten, das heute als unveräußerliches Gut jedem Mitglied der Gesellschaft zur Verfügung steht.

Stand der Dinge
Die Debatte um die Beschneidungsrituale jedoch wirft ein anderes Schlaglicht auf den Stand der Dinge. Mit einem Male zeigt sich, dass die Routine der Bürgerrechtsdebatten uns offenbar nicht wirklich weiterhilft, um hier zu einem Ergebnis zu kommen. Statt dessen tritt man routiniert auf der Stelle und ersetzt das Bemühen um einen Konsens oder eine Verständigung durch endlose Diskussionsrituale oder gern auch durch höchstrichterliche Entscheidungen. Was bei Fragen wie dem Eurorettungsschirm aus verfassungsrechtlicher Sicht noch nachvollziehbar erscheint, weil es auch um die Partizipation der Verfassungsorgane und ihr rechtmäßiges Handeln geht, führt bei Debatten um die Regeln des Zusammenlebens, und darum handelt es sich letztendlich, in die Irre. 

In den USA haben es die fanatischen Fundamentalisten vorgemacht, wohin beispielsweise eine gesellschaftliche Debatte um die Abtreibung führen kann, wenn die Besinnung auf die ur-demokratischen Überzeugungen nicht mehr gegeben ist. Eine ur-demokratische Überzeugung ist zum Beispiel die Entscheidungsfindung im demokratischen Diskurs, parlamentarisch und außer-parlamentarisch. Wichtige Meinungsbild, wichtige Entscheidungsorte. Von diesen Orten ist allerdings am Ende eine Einigung, eine Perspektive zu erwarten, die die Gesellschaft auf eine gemeinsame Linie verpflichtet. Wer als Unterlegener im Diskurs ständig auf seine Rechte pocht und auf Durchsetzung seiner Mindermeinung besteht, bricht den demokratischen Konsens. Man konnte den Eindruck haben, dass an dieser Stelle tatsächlich schon etwas verloren gegangen ist, was wir als Grundlage des gesellschaftlichen Dialogs unbedingt brauchen. Dazu mag auch die Verunglimpfung dieses demokratischen Dialogs als herrschafts-dominierten Prozess beigetragen haben. Diese Kritik hat es nicht vermocht, eine wirksame Alternative zu entwickeln, die den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft gerecht wird. Minderheitenrechte zu stärken als Hilfe gegen offenkundige Drangsalierung und Entrechtung ist immer noch richtig, im Diskurs darf der Minderheitenstatus allerdings nicht als Argument für die Überzeugungskraft der eigenen Position herhalten.

Zu kurz gesprungen
Vor diesem Hintergrund scheint mir die Debatte über die Beschneidung vor allem im Hinblick auf das Gebot der Toleranz zu kurz zu springen. Wer die Freiheit der Religion propagiert, und wir tun das, muss sich mit der Tatsache auseinander setzen, dass Elemente der Religionsausübung mit bestimmten anderen Standards nicht konform gehen. Natürlich kann man die Beschneidung von acht Tagen alten Knaben als Körperverletzung bewerten und obendrein als Beraubung der Selbstbestimmung. Man kann sie aber auch als integralen, fundamentalen Bestandteil der Religionsausübung betrachten und damit wäre sie außerhalb der Reichweite einer strafrechtlichen Bewertung. Das Strafrecht ist ein untaugliches Instrument, um dieses Problem zu bewerten. Das Verbot der Beschneidung nimmt in der Tat allen Juden und Moslems die Möglichkeit ihrem Glauben so nach zu gehen, wie es die Tradition und der Ritus vorsieht. 

Hier begegnen sich Traditionslinien menschlicher Gemeinschaften, die alter und wirkungsmächtiger sind als alles andere. Linien, die man 4000 Jahre nach ihrem Entstehen mit dem Hinweis auf strafrechtliche Gründe nicht plötzlich verbieten kann. Diese sind hier unwirksam. (Anders sähe es mit einer religiösen Regel aus, die Menschen zur Tötung freigäbe und damit das fundamentalste aller Rechte beenden würde, das Recht auf Leben.) Es mag der säkularen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht einleuchten, welche Gründe einst dazu führten, diese Regel zu erlassen, aber das muss es ja auch gar nicht, da sie ausdrücklich nur innerhalb der einen Glaubensgemeinschaft gültig ist. Träte diese mit einem Universalanspruch auf Gültigkeit für alle Menschen auf, müsste ihr mit denselben Gründen Einhalt geboten werden, wie die, weshalb man sie nun tolerieren soll. 

Das ist schwierig. Das ist ein Problem, wenn die eigenen Anschauungen so offensichtlich am Denken der anderen zerschellen und offenkundig dort keine Bedeutung haben. Aber dies muss man sich selbst abverlangen. Auch deshalb muss man es sich abverlangen, um die Position zu gewinnen, von der aus man klare Grenzen der Tolerierbarkeit zieht. Niemand darf dem anderen das Recht auf Leben verweigern oder sich zum Richter über Leben und Tod aufschwingen. An dieser klaren Grenze endet die Toleranz. Deshalb soll man auch die Todesstrafe weltweit mit den zu Gebote stehenden politischen Mitteln bekämpfen, sie ist nicht tolerierbar. 

Toleranz bedeutet eine ungeheure Kraft, eine ungeheure Energie, die gebraucht wird, um den Zumutungen der Gesellschaft, der Welt, der Menschen etwas entgegensetzen zu können. Die gleichgültige Duldung anderer Vorlieben im Privatleben, ob nun die Wahl der Mode, der Freizeitgestaltung oder des Konsumverhaltens, ist nur eine Vorstufe dazu. Wer hier den anderen nach seiner Facon selig werden lässt, muss sich unter Umständen bei der Entscheidung über andere Tatbestände noch einmal völlig neu sortieren. 

Toleranz bedeutet als eine tragende Säule unserer aufgeklarten Gesellschaft und unseres aufgeklärten Denkens, unseres mündigen Denkens, die Fähigkeit, sich selbst in den offenen Diskurs mit dem anderen zu begeben und möglicherweise gemeinsam zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Die öffentliche Diskussion litt zuletzt unter einem fundamentalen Mangel an unveräußerlichen demokratischen Grundüberzeugungen. Da wurden Meinungen ausgetauscht, subjektive Bewertungen, was dem einen genehm wäre oder einleuchtend und dem anderen nicht. Es fällt unserer Gesellschaft und ihren Eliten überdies schwer zuzugestehen, dass der zivilisatorische Reifeprozess nie abgeschlossen und erst recht kein konkurrierendes Produkt auf dem Markt der Weltanschauungen ist. Dieser Prozess wirkt nach innen und ist eine Kraft, die die auseinander driftenden Kräften der Gesellschaft strukturieren und zusammenhalten soll, nicht jedoch als Marschbefehl zur Eroberung anderer Gesellschaften.

Es wäre an der Zeit, darüber nachzudenken, wie sicher wir unserer eigenen Grundgesetze eigentlich wirklich sind. Fast scheint es, als wären wir der Kraft unserer eigenen Regeln nicht sicher genug, so dass wir mit Gelassenheit und Selbstbewußtsein andere Entwürfe, alternative Vorstellungen tolerieren könnten. Hier scheint mir die eigentliche Crux der Debatte verborgen. Es gibt viel zu tun. Denkt schon mal nach!

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