Dienstag, Dezember 04, 2012

Was ist drin für mich? - Fotos & Stories


Christophe Jacrot 

"Lisbon Lady" 2011/2012


Eine nächtliche Szene in Lissabon. Ein Fotograf nimmt aus geringer Entfernung das Bild einer Frau auf, die beschirmt von einem Regenschirm durch die Altstadt geht. Es dürfte der Heimweg nach einem Arbeitstag in einem schicken Geschäft in der City oder in einem Büro eines Handelsunternehmens sein. Das Kopfsteinpflaster glänzt feucht, leichter Niesen begleitet den einsamen Heimweg. 



Vermutlich ist sie wie jeden Abend mit dem Bus und der U-Bahn aus der City in den Vorort gekommen, müde nach einem langen Tag mit anstrengenden Kunden und nervigen Kollegen. Sie geht dennoch betont selbstbewusst, zufrieden mit der Leistung an diesem Tag, darüber sinnierend wie sich ihre Laufbahn entwickelt und welche Telefonate sie gleich noch führen möchte. 

http://www.lumas.de/pictures/christophe_jacrot/lisbon_lady/

Will sie noch das Versprechen einlösen, ihre Mutter anzurufen, oder ist das wöchentliche Telefonat mit der besten Freundin dran? Möglicherweise denkt sie darüber nach, ob sich der Mann melden wird, den sie vor kurzem erst bei einer Vernissage kennengelernt hat. Sie ist sich nicht sicher, ob sie sich diesen Anruf wünschen sollte, oder ob sie es sich nach den Telefonaten vor dem Fernseher bequem machen soll. Die kleine Wohnung in der Altstadt hat sie vor etwa drei Jahren gemietet, als sie für den neuen Job in der Stadt die Stelle im Vorort aufgab. Bis sie nicht deutlich mehr verdient, möchte sie dort noch wohnen bleiben und sich dann nach etwas Größerem umsehen. Wann das endlich der Fall sein wird, weiß sie heute noch nicht. Mit Ende 20, so denkt sie, hat sie dafür noch Zeit.

Sie hat sich vorgenommen, geduldig zu sein und einen Schritt nach dem anderen zu machen. Der Nieselregen nervt sie, sie hatte gehofft, rechtzeitig nach Hause zu kommen, bevor der Regen einsetzt. Sie beeilt sich, auf dem rutschigen Pflaster ihre Wohnung zu erreichen. Vorsichtig, aber eilig setzt sie einen Fuß vor den anderen und hofft, dass ihre teuren Schuhe dabei nicht ruiniert werden. In ihrer Tasche, die sie locker über der Schulter trägt, hat sie die notwendigen Accessoires des Tages verstaut, heute nicht soviel wie an anderen Tagen, wenn sie schwer und unbequem an ihr hängt und ihre Schulter schmerzen lässt. Heute Abend braucht sie die Schulter nur ein wenig hochzuziehen, damit ihr die Tasche nicht heruntergleitet. 

Am Morgen hatte sie wenig Zeit, sie mit allerhand Utensilien vollzustopfen, da sie sich ein wenig verspätet hatte. Darüber freut sie sich sekundenlang, wenn ihr zu Bewusstsein kommt, dass heute Abend nichts ihren raschen Schritt und ihre Zielstrebigkeit auf dem Weg nach Hause behindert. Dort wartet eine aufgeräumte Wohnung auf sie, das freut sie, denn so hat sie keine weitere Arbeit, sondern kann sich ihren Lieblingssnack in der Mikrowelle aufwärmen, die in ihrer Altbauküche das einzige moderne Gerät außer Herd und Kühlschrank ist. Manchmal fällt im Sommer der Strom aus, wenn in der gesamten Altstadt die Kühlaggregate und Klimaanlagen laufen. Davor braucht sie heute Abend keine Furcht zu haben. 

Wenn sie gleich die Haustür passiert, wird sie an die ältere Frau denken, der sie morgens auf dem Weg zur Bahn immer wieder begegnet. Sie kennen einander vom Sehen, grüßen einander aber nicht. Sie weiß nicht viel über ihre Nachbarn, die um sie herum leben. Sie hört sie, sie sieht sie, aber sie hat kaum Kontakt, weil sie morgens meist verspätet aufbricht und sich eilen muss, während sie abends erst später als andere aus dem Büro oder dem Geschäft heimkehrt. Die letzten Meter ihres Heimwegs, gleich links um die Ecke, an der Haustür der fremden Frau vorbei, sind noch einmal anstrengend, weil die Steigung der am Hang über der neuen City erbauten Altstadt deutlich zunimmt. 

Noch wenige Meter, dann hat sie wie jeden Abend den Heimweg gemeistert und kann die Tür hinter sich schließen, den Regenschirm wird sie wie immer hinter der Tür stehen lassen, damit sie ihn morgens nicht vergisst, wenn sie ihre Wohnung im dritten Stock verlassen hat. Hinter ihr ahnt sie einen jungen Mann, der ihr lächelnd ins Gesicht sah, als sie an ihm vorbei ging. Er hielt eine große, offensichtlich teure Kamera in der Hand und schien auf etwas zu warten. Sie hatte nicht zurück gelächelt. 

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