Mark Lombardi - Narrative Struktur, doc 13 2012 Foto: Ruß |
Verschwörungstheorien sind normaler Bestandteil der sozialen Folklore. Nur haben sie uns etwas zu sagen? Oder sagen sie uns nicht vielmehr etwas über uns selbst? Aber was nur?
Wenn das 21. Jahrhundert
das Zeitalter der Information und des Wissens ist, wenn die Gegenwart
ein unaufhörlicher Stream von neuen Erkenntnissen ist, wenn Bildung
und Lernen im Rang von Tugenden stehen, wo bleiben dann die Rätsel
und Geheimnisse, wo bleiben die unentdeckten Winkel, die ungelösten
Fragen? Wenn über all Antworten sind, wer stellt dann die Fragen?
Wenn jede Informationsquelle offen steht, wenn jede öffentliche
Stelle auskunftsverpflichtet ist, wenn eine funktionierende Presse
beständig jeden Stein umdreht, um auch die letzte und geheimste
Verschwörung aufzudecken, - was bleibt dann für uns zu tun, wo
bleiben dann die Herausforderungen und Wagnisse?
So wie es die Menschen
inzwischen in immer waghalsigeren Aktionen auf die höchsten Berge,
in die tiefsten Meeresgräben, in die schnellsten Autos und die
gefährlichsten Gegenden treibt, so sucht sich der aktive Geist seine
Spielflächen und Labyrinthe, in denen er sich noch erproben und
beweisen kann. Und geht dabei mindestens so halsbrecherische Risiken
und Experimente ein, wie die Kollegen von der Sportfraktion auf den
Bergen. Oder was sind die grassierenden Verschwörungstheorien
anderes, die seit Jahren die Phantasien von Millionen bewegen und so
etwas wie ein völlig anderes Bild der Gegenwart und den ihnen inne
wohnenden Kräften produzieren? Roswell, John F. Kennedys Ermordung,
Marilyn Monroes Selbstmord, die Mondlandung, Papst Johannes Paul I.,
9/11, der Tsunami 2004.... eine lange Liste von Geschichten und
Ereignissen, eine immer länger werdende Liste.
Verschwörung? Oder nur eine physikalische Formel bei der doc 13? |
Für jede dieser
Geschichten gibt es klare, rationale, logische Erklärungen,
teilweise sogar offizielle Untersuchungsberichte. Und dennoch haben
es die meisten dieser Theorien in die Folklore verschiedener Gruppen
in der Gesellschaft gebracht. Man stößt überall auf ihre Spuren,
am Stammtisch und bei der Party, in den Medien und in den Erzählungen
unter Freunden. Sie teilen die Gesellschaft in jene auf, die wissen
und/oder eingeweiht sind, und in jene, die völlig ahnungslos
weiterleben und sich permanent täuschen lassen. Dies hat den
interessanten Nebeneffekt, dass es eine Umkehrung der Verhältnisse
ergibt, wer sich eben noch zur Informationselite zählte und auf der
Höhe der Zeit wähnte, dem wird suggeriert, dass er einem
gigantischen Komplott aufgesessen ist und in Wahrheit nichts weiß.
Der geringste Zweifel ist schon Berechtigung, Komplotte und
Verschwörungen zu vermuten.
Kennzeichnend für diese
Art von Theorien ist es, dass sie um so hartnäckiger kommuniziert
und erweitert werden, je eindeutiger die Verhältnisse zutage liegen
scheinen. Verschwörungstheorien sind, einmal in die Welt gesetzt,
unwiderlegbar. Da es meist keine harten Beweise für die eine oder
andere Theorie gibt, kann der jeweilige Gegenbeweis nicht angetreten
werden. Ergo gilt die Ausgangsthese als bewiesen. In einer komplexen
Welt, in der Ursache und Wirkung, Urheber und Nutznießer, Anfang und
Ende selten einfach auszumachen sind, in einer solchen Welt gilt die
Komplexität eines Problems oder Vorgangs allein zumindest als
Hinweis auf die mögliche Existenz einer Verschwörung. Grenzen kennt
diese Art des Denkens nicht. Selbst der katastrophale Tsunami von
Weihnachten 2004 könnte demnach auf Experimente des amerikanischen
Geheimdienstes zurückzuführen sein.
Die amerikanische
Geheimdienste, egal ob CIA, NSA oder DIA, geraten dabei sehr viel
häufiger, man möchte fast sagen ausschließlich, in den Fokus der
Betrachtung. Kaum eine populäre Verschwörungstheorie erklärt
Vorgänge in Asien, Afrika oder anderswo auf der Welt. In den
allermeisten Fällen dreht es sich um die USA, in der die Urheber für
allerlei Schurkisches vermutet werden. Am Ende ist das gar eine
Verschwörung gegen die USA?
Der amerikanische Künstler
Mark Lombardi zum Beispiel hat sich nach eigenem Bekunden
ausschließlich aus öffentlich zugänglichen Quellen über die
bestehenden Beziehungen zwischen maßgeblichen Persönlichkeiten der
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft informiert. Seine daraus
entstandenen, von ihm selbst als narrative Strukturen bezeichneten
Werke, großformatige, penibel gezeichnete schematische Darstellungen
von Interaktion und Interdependenz zwischen bekannten und unbekannten
Personen, suggerieren ein riesiges, monströses Geflecht von
Interessen, Abhängigkeiten, Gemeinsamkeiten und Verabredungen.
Lombardi, der 2000 unter
mysteriösen Umständen in seinem Atelier tot aufgefunden wurde, zog
aus Zeitungsartikeln und Büchern und allen anderen erreichbaren
Quellen seine Informationen, die er zu faszinierenden Gebilden
verarbeitete, die auf den ersten Blick aussehen wie die graphische
Abbildung komplizierter mathematischer Formeln. Der Betrachter steht
davor und bemüht sich, Verbindungen nachzuvollziehen, die durch
Bögen und Linien dargestellt, aber durch keine weiteren
Informationen untermauert oder begründet werden. Mit Hilfe von
unermüdlicher, rastloser Arbeit Tag und Nacht, und insgesamt 14.000
Karteikarten entstanden diese narrativen Strukturen, die inzwischen
auch Teil der letzten Documenta waren. Hier stellt sich genau der
Effekt der Beweisführung qua Masse und Suggestion ein, der oben
angesprochen wurde: Der unwissende Betrachter, der dem Inhalt der
Bilder mangels eigenem Wissen und eigener Recherche nichts
entgegenzusetzen hat, muss zunächst konzedieren, dass diese
Darstellungen zumindest theoretisch beanspruchen können, zu stimmen,
zutreffende Anordnungen zu sein. Sie scheinen plausibel, sie
erscheinen denkbar und deshalb realisierbar. Nur der Beweis, dass es
tatsächlich so ist oder so war, der wird am Ende nicht angetreten.
Völlig außer Acht
gelassen wird dabei die Kritik an den Quellen. Das einzige, was man
zunächst konkret über sie erfährt, ist das immer wieder zitierte
"öffentlich frei zugänglich." Diese Bezeichnung
suggeriert zum einen die Beiläufigkeit, mit der die Informationen in
unserer täglichen Lebenswelt verborgen sind, und zum anderen, dass
sie deshalb auch stimmen und der Wahrheit entsprechen. Aber was für
Informationen gewinne ich aus einem Artikel in der New York Times, in
der etwa die Begegnung eines Schauspielers mit Politikern und
Unternehmern geschildert wird? Zunächst nur diese: Ein Schauspieler
hat Politiker und Unternehmer getroffen. Interessant oder mit
Bedeutung aufgeladen werden diese Teilinformationen aber erst dann,
wenn sich weitere Hinweise finden lassen, in denen weitere, weiter
gehende Verbindungen oder Kontakte andeuten lassen. Dem Verfasser
dieser Zeilen beispielsweise ist ein ehemaliger deutscher Minister
flüchtig bekannt, der im Weißen Haus dienstlich zu tun hatte, also
den damaligen amerikanischen Präsidenten kennt. So lässt sich also
eine Beziehung herstellen in die eine Richtung und über einen
anderen deutschen Politiker in den Kreml. Was sich dabei allerdings
nicht ändert, ist, dass der Verfasser dieser Zeilen nie in
Washington war oder jemals das Bundeskanzleramt in Berlin von innen
gesehen hat. Es ließe sich jedoch eine Struktur konstruieren, die
etwas anderes mutmaßen ließe. Mutmaßen, nicht aber beweisen.
Und eben daran krankt
diese Form der Informationsverarbeitung. Man kann nicht wirklich
qualifiziert beurteilen, wie planvoll die dargestellten Verhältnisse
sind, welche Absichten dahinter stecken und welche Pläne aus ihnen
erwachsen sind. Rückwärts gewandte graphische Darstellungen haben
eine andere Wertigkeit. Wer heute etwa die Verflechtungen innerhalb
des Dritten Reiches nachvollzieht, stützt sich auf frei zugängliche
(!) Quellen in der Wissenschaft und kann wenig falsch machen, wenn er
gründlich arbeitet. Nur neu und innovativ wird die Arbeit nicht
sein. Dort aber, wo in der Gegenwart keine Ergebnisse
kriminalistischer Untersuchungen vorliegen, muss die Qualität einer
Beziehung deutlich geklärt werden.
Anderenfalls ist die
Narration, die Erzählung der graphischen Darstellung beliebig und
frei interpretierbar. Durchaus denkbar, der berühmten Wiedergabe der
Beziehungen der Präsidenten-Familie Bush mit der Unternehmerfamilie
bin Laden eine gänzlich andere narrative Interpretation zugrunde zu
legen, als der hinlänglich kolportierten. Wer erzählt, der muss
begründen, der muss Zusammenhänge nicht nur konstruieren, sondern
selbst herstellen, der muss nicht nur plausibel sein, sondern auch
zutreffend. Erzählungen können anderenfalls auch entgleiten und ein
Eigenleben entwickeln, erst recht, wenn die Form der Erzählung sich
so weit von der geschriebenen, erzählenden Kommunikation entfernt
wie Lombardis Strukturen.
Foucaultsches Pendel Foto: pixelio.de/D. Schütz |
Umberto Eco, der
vielleicht, oder wahrscheinlich, aber gegebenenfalls auch nur
vermutlich Lombardis Arbeiten kannte, als er sich entschloss, seinen
Roman "Das Foucaultsche Pendel" zu schreiben, hat dort
geschildert, wie unabsichtlich von drei teils sehr verschrobenen
Charakteren durch ein eigens geschriebenes Computerprogramm ein
"Großer Plan" geschrieben wird, der so etwas wie eine
gigantische Weltverschwörung durch die Geschichte hindurch
darstellt. Dieser große Plan existiert zunächst nur als Programm,
bis sich herausstellt, dass tatsächlich Verschwörer existieren, die
fürchten müssen, durch diesen dummen Zufall enttarnt und an der
Ergreifung der Weltherrschaft gehindert zu werden. Der große Plan -
das ist so was Ähnliches wie die Blaupause für jedwede vorstellbare
Verschwörung. Dieser Plan könnte zum Beispiel auch den narrativen
Strukturen Mark Lombardis zugrunde liegen. Dieser Plan oder auch ein
anderer, das spielt keine Rolle.
Bei Verschwörungen spielt
weniger das Ziel eine Rolle, als mehr ihre schiere Existenz
beziehungsweise ihre vermutliche Existenz. Und, wer weiß, vielleicht
ist Umberto Eco ein Komplize der Großen Verschwörung, die im Gange
ist? Vielleicht war er ein willfähriger Jünger der Mächtigen, bis
er endlich einsah, dass er anderen Wahrheiten verpflichtet ist? Um
sich zu schützen, schrieb er das „Foucaultsche Pendel“ und
versteckte Codes, Hinweise und Spuren darin, die es zu entschlüsseln
gilt. Vielleicht spürt die Spur über Mark Lombardis Werk, das erst
noch entschlüsselt werden muss.
Diese Frage nämlich
bleibt noch unbeantwortet: Wenn es nicht der Große Plan ist, den
Lombardi enthüllt, was ist es dann? Vielleicht ist es ja nur ein
Experiment, die Unübersichtlichkeit der Welt exemplarisch sichtbar
zu machen? Die Unermesslichkeit der menschlichen Möglichkeiten auf
diesem Planeten anschaulich zu machen? Vielleicht wusste Lombardi es
bis zur Nacht seines Todes selbst nicht.
Die Große Erzählung. Foto: pixelio.de/G. Altmann |
Wahrscheinlicher ist, dass
die Welt und alles, was wir in ihr zu erleben imstande sind, eine
einzige große Erzählung ist. Aber eine ohne Plan, ohne Ziel. Eine
Erzählung, die mäandert und springt, die mal hier und mal dort
beginnt und endet, die laut und leise ist, immer gegenwärtig, immer
lebendig, atmend, lebend, wachsend wie die Welt nun mal ist. In
dieser Großen Erzählung ist Platz für alle Menschen, für ihre
Träume, ihre Phantasien, ihre Heldentaten und ihre Verbrechen, ihre
einsamen Gedanken und ihre verwegenen Verschwörungen. Vielleicht
spricht die Welt durch diese Große Erzählung zu uns allen und durch
sie sind wir mit einander verbunden. Manchem offenbart sich diese
Erzählung als Verschwörung, anderen als Tragödie, wieder anderen
als Soap Opera. Und wie jeder Erzähler verlangt es jeden von uns,
die Geschichte, in der wir spielen, fortzuspinnen und zu einem guten
Ende zu bringen. Und der Schurke im Stück, das unsere Welt und unser
Leben heißt, das sind die Verschwörer und Geheimbündner, wie immer
sie auch heißen mögen und wo immer sie sich jetzt, in dieser
Sekunde, da dies geschrieben wird, auch versteckt halten mögen.
Vielleicht ist ja jede
verrückte Tat, jeder blödsinnige Rekord fürs Guiness Buch, jeder
Gipfelsturm, jede Weltumseglung, ein Teil dieser Erzählung, die die
Welt und das Leben ist.
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