Sonntag, April 22, 2012

Unser alltäglicher Horror 2012


Und beschütze uns vor dem Übel...
Ein Versuch über das Böse in Büchern. Vor und nach Utöya.


Menschen werden aufgeschlitzt und ausgeweidet. Kinder verschwinden spurlos und tauchen als skeléttierte Leichen wieder auf. Unheimliche Serienkiller kreisen um die Häuser unbefangener Frauen und massakrieren sie auf unerdenklich grausame Art und Weise. Richtig. So etwas geschieht gelegentlich in der Wirklichkeit, in der einfachen schlichten Wirklichkeit, in der wir zur Arbeit gehen, Auto fahren und einkaufen. Wenn wir uns zur Ruhe begeben, macht sich irgendwo auf der Welt ein Monster auf zwei Beinen auf, sich ein Opfer zu suchen. Und wenn wir von seinen Taten erfahren, fasziniert es uns, wir wollen mehr wissen als „wer war es?“, wir erfahren ja auch ohne Probleme „wie hat er es gemacht?“ Im Internet kursieren grausigste Bilder von Tatorten und Opfern, ohne jede kriminologische Bewandtnis, einfach so, wie die Schnappschüsse von Sonnenuntergängen. Und wir schauen hin, zumindest einige von uns. 



Und wer dies nicht tut, wer vielleicht noch des Lesens mächtig ist und Spannungsliteratur mag, der kann sich wohl gesetzt und kalt komponiert an belletristischen Abhandlungen über das Böse im Menschen ergötzen. Und die Frage könnte gestellt werden: „Warum das?“ Gut, es könnte um Aufklärung gehen, um Verstehen der Täter und Taten. Hin und wieder deuten Autoren das auch an, aber viel häufiger ist in den aktuellen Romanen der Polizist der geschlagene Charakter, der sich aus seinen existenziellen und menschlichen Abgründen heraus aufraffen muss, absurderweise das Böse außerhalb seines Lebens zu bekämpfen, während die Dämonen in seinem Leben weiter wirken. 
Da leidet der eine unter seiner Feigheit, die einem Kollegen das Leben und einem anderen die Gesundheit gekostet hat. Ein anderer ist ständig müde und vergesslich, zerstreut, von privaten Sorgen verfolgt. Traumatisierte, verletzte Charaktere sind das, Männer und Frauen, kein Unterschied. Alle auf ihre Art verletzt im Kampf um das Gleichgewicht von Gut und Böse in der Welt, das in ihren Leben verloren gegangen ist. Und die Täter, die Killer, die Wahnsinnigen, die Bösen, sind kaum der Widerschein des Inneren des Ermittlers, sondern wie eine stete absurde Herausforderung, trotzdem aktiv zu werden, immer wieder dennoch zu sagen und weiter zu machen, nicht aufhören, sich weiter den Berg hinauf schleppen und das ohne zu wissen, warum und zu welchem Ende. Die Siegerpose im Blitzlichtgewitter ist ihnen egal, sie wissen, welchen Preis sie täglich zahlen und dass ihnen der Sieg über die Täter nichts bedeutet, weil sie ihren Kampf nie gewinnen können. Dirty Harry war sich seiner Sache noch sicher, gegen alle Widerstände, mit aller Härte. Sein Sieg war auch ein Sieg über die anderen Guten, die ihm den Kampf gegen die Killer erschwerten. Und so bekam das Ganze wieder einen Sinn. Heute aber bleibt der Schmerz, die Aussichtslosigkeit, das Schmerzensrad. Wenn Conan Doyle, Agatha Christie, Raymond Chandler, Dashiell Hammett, Mickey Spillane, James Ellroy, Robert Ludlum, John le Carree, Patricia Cornwall alle auf ihre Art bezeichnend für die Sicht ihrer Zeit auf das Verbrechen und unser aller Verhältnis zu ihm waren und sind, was sagt dann die heutige überwiegende Zahl der Spannungsliteratur über uns aus? Wir, die grausigere Verbrechen kennen, als Generationen vor uns, die schlimmste Details gesehen haben und mit ihrer künstlerischen Verarbeitung spielen, die in der Tagespresse mehr zu erfahren gewohnt sind, als je zuvor? Bilder aus dem Holocaust, aus Srebrenica, aus Afghanistan, aus dem Irak - der Frontreporter mit seinem erbarmungslosen Weitwinkel auf die furchtbaren Ereignisse dieser Welt und die schrecklichen Dinge, die wir Menschen einander antun.... Der Frontreporter hat unser Bild geprägt, hat unsere Erwartungen an das Dargestellte geformt und das Bedürfnis nach immer mehr Intensität des Grauens verstärkt. Gemetzel in Mexiko, Sprengstoffattentate im Irak, Gefechte in Afghanistan, Kindertötungen in Deutschland: Wir geben uns längst nicht mehr mit der Banalität des Bösen als Schlagwort zufrieden, wir wollen beurteilen können, ob die Aussage stimmt, ob die Schilderung zutrifft. Und so quälen wir Augenzeugen mit unseren immer gleichen Fragen, suchen die Stätten der Genozide auf und fahnden nach Zeugen. In uns selbst aber steigt die Gewöhnung und die Akzeptanz des Bösen als einem unauslöschlichen Phänomen, das zu unserem Leben dazugehört, wie das Nachtgebet, in dem wir Gott bitten, unsere Lieben vor eben diesem Bösen zu bewahren. 
Noch leugnen wir, danach befragt, unsere Einstellung, aber insgeheim ist da dieses Einverständnis, diese stille Zustimmung zur Existenz des Grauen in der Welt. Wir spiegeln uns in den tapferen Ermittlern, den übel gelaunten Experten fürs alltägliche Böse, den taumelnden, ehemals brillanten Führungsköpfen, die unter der Wucht der Ereignisse und Erlebnisse in die Knie gehen. Wir ähneln ihnen, nicht den rasenden Wahnsinnigen, den Golems, den Menschenfressern. 
Unsere Kommissare sind Geschlagene auf dem Rückzug in eine Wagenburg, die für den Schutz nicht taugt. Und wir schauen ihnen fassungslos dabei zu, während der Böse uns immer näher kommt und als Ersten vermutlich den Helden zerfleischt, bevor er sich um uns Gaffer und Rumsteher kümmert. Unsere Helden bäumen sich wie Gladiatoren im blutigen Sand der Arena noch einmal auf und erwarten keine Gnade, hoffnungslos unterlegen, wie sie sind. Und wir schauen zu, atemlos, während die Wärter fliehen und die Käfige  offen lassen..... Komm, blätter um!

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