Freitag, April 27, 2012

Gelesen, verstanden, notiert 7



Aus dem Zusammenhang gerissen
Aus: Neues Buch über Humor - Stichwort Bananenschale von Jan Füchtjohann
In SZ 23.4.2012
Dennett, Hurley und Adams analysieren den Stand der Humortheorie demgegenüber mit dem gebührenden Ernst. Witze erklären ist zwar bekanntlich wie Frösche sezieren - erst interessiert sich keiner dafür und am Ende ist der Frosch tot -, aber trotzdem haben sich nahezu alle großen Denker schon einmal daran probiert....


Die vielen Humortheorien beleuchten also zumeist sehr interessant einen oder mehrere Aspekte, vergessen dafür aber andere oder ordnen sie sich allzu großzügig unter. Laut Dennett ist dies ein systematisches Problem: Denn so wie man mit einem Mikroskop eine rote Oberfläche nach der anderen untersuchen kann, ohne je zu verstehen was "Rot" bedeutet, kann man auch einen Witz nach dem andern erklären, ohne je zu begreifen, was Humor ist. Der kleinste gemeinsame Nenner alles Lächerlichen liegt nämlich im Grunde nicht da draußen - es sind vielmehr wir selbst.
Oder besser: unser eigenes fehlerhaftes Denken. Der hier entworfenen Theorie zufolge ist Humor eben kein Aufblitzen der göttlichen Allwissenheit, vor der alles Menschliche zur Komödie wird. Im Gegenteil, er ist die Strategie eines beschränkten, permanent Fehler machenden Verstandes. Denn genau so sehen Dennett, Hurley und Adams das menschliche Gehirn - als eine notorisch unvollkommene Rechenmaschine, die, um zu überleben, ständig Annahmen darüber treffen muss, was als nächstes geschieht.
Fährt das Auto an mir vorbei oder muss ich ausweichen? Klopft mir der Mann da auf die Schulter oder will er mich verprügeln? Ist das da wirklich eine Bananenschale? Bin ich wach oder träume ich? Obwohl das Gehirn nie genug Information oder ausreichend Zeit hat, sein Wissen zu prüfen, muss es trotzdem in Echtzeit ein plausibles Modell der Wirklichkeit entwerfen.
Das geht erfahrungsgemäß manchmal schief, und das kann dann ziemlich lustig werden. Die These lautet also: Das Lachen ist eine Belohnung, die Karotte vor der Nase der permanent fehlersuchenden Vernunft. Es motiviert uns, nach Irrtümern im Denken und Wahrnehmen zu suchen und diese zu korrigieren.


Aus: Der Supermarkt des Lebens von Lars Weisbrod

In: SZ 23.4.2012
2005 hielt der Schriftsteller David Foster Wallace vor Absolventen des Kenyon College in Ohio die Abschlussrede. Er sprach über das alte Klischee, dass man in einem geisteswissenschaftlichen Studium nicht Wissen lerne, sondern das Denken. Wallace erzählt den College-Absolventen, wie er als durchschnittlicher Erwachsener jeden Tag die grausamsten Situationen durchleben muss. Nicht nur die großen Verzweiflungen, sondern vor allem die Kleinigkeiten wie den Feierabendgang in den Supermarkt: Stau auf dem Hinweg, Schlange an der Kasse, unfreundliche Kassiererin. „Und dann müssen Sie mit Ihren Lebensmitteln in den schauderhaften, hauchdünnen Plastiktüten im Einkaufswagen mit dem einen eiernden Rad, das immer so nervtötend nach links zieht, draußen über den ganzen überfüllten, holprigen, zugemüllten Parkplatz und die Tüten möglichst so im Wagen verstauen, dass nicht alles rausfällt und auf der Heimfahrt im Kofferraum herumkullert …“

Das Erwachsenenleben besteht zum Teil aus solchen Momenten, frustrierend wie das eiernde Rad am Einkaufswagen. „Wenn Sie aber“, sagt Wallace dann, „wirklich zu denken gelernt haben und aufmerksam sein können, dann wissen Sie, dass Sie eine Wahl haben. Dann steht es in Ihrer Macht, eine proppenvolle, heiße und träge Konsumhölle als nicht nur sinnvoll, sondern heilig anzusehen, weil sie mit einer Energie geladen ist, die Sterne erschaffen konnte … Nicht dass so ein mystischer Murks unbedingt wahr wäre: Im Vollsinn des Wortes wahr ist nur, dass es Ihre Entscheidung ist, wie Sie die Dinge sehen wollen.“

Aus: Urheberrecht Umsonst für immer von Claudius Seidl
In FAZ 21.04.2012  
Es sind ja auch die Paradiese der populären Kultur, die man auf Youtube finden kann; man gibt zum Beispiel, weil gestern Bram Stokers Todestag war, das Stichwort „Dracula“ ein und bekommt die kompletten Filme. Man findet Isaac Hayes, wie er „Walk on By“ singt in der komplett verrückten Dekoration einer Fernsehshow von 1969. Man kann den Wiener Philharmonikern zuschauen und zuhören beim kompletten Neujahrskonzert 2012, man hat da fast alles von Gerhard Polt, und keiner muss in die Galerie gehen, um Pipilotti Rists komplettes Werk auf Video zu sehen. Und wer die entsprechende Software geladen hat, holt sich seine Lieblingswerke auf die Festplatte und spielt sie auf dem großen Fernseher ab. Sich durch Youtube zu klicken ist ein herrliches Gefühl und eine beglückende Erfahrung, es ist genau das, was das öffentlich-rechtliche Fernsehen nur ganz selten ist: eine angemessene Beschäftigung für intelligente und neugierige Zeitgenossen. Und weil jedermann (und jeder Spinner) seine eigenen Werke hochladen kann, ist das Medium so frei, wie es das Fernsehen nie sein wird.
Ist es aber richtig, wenn, wie die ersten Kommentare suggerieren, diese Freiheit nur als Kostenfreiheit definiert wird? Gibt es wirklich ein Menschenrecht darauf, dass das gesamte audiovisuelle Archiv der populären Kultur jedem Internetnutzer umsonst zur Verfügung steht? Und ist es wirklich so schlüssig, die Firma Google, die Youtube betreibt und dort mit Werbung ihr Geld verdient, nur zu vergleichen mit der Post, die ja auch nicht wisse, was in den Briefen steht, die sie versendet?
Dass die Gema ein zutiefst unsympathischer Laden ist, macht die Rechte der Urheber noch nicht irrelevant. Und das Erstaunlichste an der Frage, wer im Internet wessen Freiheit einschränke, ist der Umstand, dass jene, die alles umsonst haben wollen, zugleich brav ihre Fernsehgebühren zahlen, ohne zu klagen, zu protestieren oder wenigstens eine Fernsehpiratenpartei zu gründen.


Aus: Allensbach-Studie - Junglehrer erleben Praxisschock
Von Frauke Lüpke-Narberhaus In SPON 24.4.2012
Für die Studie "Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik" befragte das Institut im Auftrag der Vodafone Stiftung rund 550 repräsentativ ausgewählte Lehrer, zudem interviewten sie Eltern von Schulkindern. Bei der Lehrerbefragung zeigt sich: Die Antworten der jungen und der älteren Lehrer unterscheiden sich zum Teil erheblich.
Während Gehard Schröder, damals noch Ministerpräsident in Niedersachsen, Schülerzeitungsredakteuren einst zuraunte: "Ihr wisst doch ganz genau, was das für faule Säcke sind", schauen junge Lehrer heute der Studie zufolge ganz anders auf ihren Beruf. Meidinger führt das gewachsene Selbstbewusstsein auf die Debatte zurück, die unter anderem die Pisa-Studie vor über zehn Jahren angestoßen hat: Für die Gesellschaft spiele Bildung heute eine wesentlich größere Rolle als früher. "Bildung ist der Schlüssel zum Aufstieg", sagt Meidinger, "dieses Bewusstsein war früher nicht so ausgeprägt." Jüngere Lehrer hingegen wüssten sehr wohl, was die Gesellschaft von ihnen erwartet - und dem würden sie sich gern stellen.

Aus: Im Gespräch:  Norbert Lammert „Mein Widerstand war grundsätzlich“ von
In FAS 21.04.2012 
Herr Bundestagspräsident, Sie haben mit den Fraktionsführungen über das Rederecht der Abgeordneten gestritten. Es ging darum, die Redezeit für sogenannte Abweichler zu begrenzen. Sie haben sich erfolgreich gewehrt. Ist die Sache endgültig vom Tisch?
Ich hoffe es. Die Diskussion war unnötig, und ich hätte sie mir und den anderen Beteiligten gerne erspart. Mein Eindruck ist, dass sich das Interesse an einer Neuauflage der Debatte in engen Grenzen hält. Ich erwarte daher nicht, dass sich an der geltenden Regelung zum Rederecht etwas ändern wird.
Die Führungen sagen, ohne Fraktionsdisziplin könne die Arbeitsfähigkeit nicht hergestellt werden. Lassen Sie das nicht gelten?
Wenige Abgeordnete sind so lange Mitglied des Bundestages wie ich. Daher brauche ich ganz gewiss keine Erläuterungen der Bedeutung von Fraktionen für die Organisation parlamentarischer Abläufe. Aber die Öffentlichkeit beklagt an der Arbeit des Bundestages doch nicht, dass es zu wenig Fraktionsdisziplin gibt. Die Menschen vermissen vielmehr die Offenheit und Lebendigkeit der Auseinandersetzung.
In dem Antrag der Fraktionsführungen zu einer geänderten Redezeitregelung wurde vorgeschlagen, dass Sie sich künftig mit den Fraktionsführungen „ins Benehmen setzen“ müssten. Was wäre denn daran so schlimm?
An der Rechtslage und an meiner Handhabung hätte das nichts geändert. Und eine Ergänzung, die nichts ändert, ist entweder unnötig oder es ist eben doch ein anderer Anspruch mit ihr verbunden als der schriftlich festgehaltene. Gerade weil daraus eine Grundsatzfrage gemacht wurde, war auch mein Widerstand grundsätzlich.
Das heißt, Sie hätten sich nicht mit den Fraktionen ins Benehmen gesetzt?
Umgekehrt: Ich hätte sie genau wie bisher darüber informiert, wem ich das Wort erteilen werde.
Trägt nicht diese Meinungsbildung in den Fraktionen ohne breite Beteiligung der Öffentlichkeit zur Entfremdung der Politik von den Menschen bei?
Das gehört zu den Herausforderungen einer repräsentativen Demokratie. Es ist nicht die Aufgabe eines Parlaments, die aktuelle öffentliche Stimmung statistisch möglichst genau abzubilden, sonst könnte man Parlamente durch Umfragen ersetzen.


Aus: Nicolas Berggruen Das Phantom von Hans Bruno Kammertöns u Tina Hildebrandt
In DIE ZEITmagazin 19.4.2012
ZEITmagazin: Derzeit erleben wir in der Finanzwelt große Krisen. Gregor Gysi, Mitglied der Linkspartei, hat schon 1989 gesagt, der Kapitalismus habe nicht gewonnen, er sei lediglich übrig geblieben. Hat er recht gehabt?
Berggruen: Nein. Kapitalismus ist nur ein Mechanismus. Im Kapitalismus wird vieles von den Märkten entschieden. Wenn man die Märkte unreguliert agieren lässt, sind Exzesse die Folge. Diese erleben wir in den letzten zwei Jahren. Extremkapitalismus ist gefährlich. Das führt wieder zu der Einsicht, dass wir Regierungen brauchen, die ihrer Verantwortung gerecht werden, die klare Regeln setzen.
ZEITmagazin: Offensichtlich können sie das nicht mehr in hinreichendem Maße, die Institutionen greifen ins Leere. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sagt, die Märkte seien Monster. Ein Monster ist etwas, das man nicht zügeln kann.
Berggruen: Man muss auch den notwendigen politischen Willen besitzen. In Demokratien haben die Institutionen oft nur wenig Kraft, weil die Politiker zu kurzfristig agieren. Sie denken an die nächsten Wahlen. Ein anderes Problem liegt darin, dass Länder wie China, aber auch Indonesien, Brasilien und die Türkei zu ernsthaften Konkurrenten des Westens geworden sind. Sie können viel Arbeitskraft zu niedrigen Preisen anbieten, während es im Westen genau umgekehrt ist. Wir stehen vor einer Entscheidung: Wollen wir weniger arbeiten, nicht mehr so viel investieren? Die Folge wäre, dass die nächste Generation deutliche Einbußen an Lebensqualität hinnehmen müsste. Oder sind wir bereit, Zugeständnisse zu machen? Erstens: wieder mehr zu investieren in Bildung und Infrastruktur und dabei auch längerfristig zu planen. Und: Wir müssen länger und härter arbeiten. Wir müssen die Frage beantworten: Sind wir bereit, Opfer zu bringen?
ZEITmagazin: Über Ihren Freund Gerhard Schröder gibt es die Geschichte, dass er als junger, unbedeutender Politiker am Zaun des Kanzleramts gerüttelt und gerufen hat: Ich will da rein! Er hat sich sofort das ganz große Ding vorgenommen. Sind Sie auch ein Rüttler, oder zerlegen Sie die Strecke im Kopf in kleinere Etappen?
Berggruen: Für mich gibt es kein Gitter und kein Haus, in das ich hineingehen will. Sich stetig zu verbessern, das ist das Interessante.
ZEITmagazin: Das Ziel ist nicht präzise?
Berggruen: Nein. Oder vielleicht ist es so: Das Ziel ist, auf den Berg raufzukommen, aber ich sehe den Gipfel nicht.
ZEITmagazin: Zum Mond fliegen, wäre das ein Ziel?
Berggruen: Ja, das würde ich gerne machen.
ZEITmagazin: War Neil Armstrong, der erste Mann auf dem Mond, ein Held für Sie?
Berggruen: Ich will nicht wegen Armstrong zum Mond, sondern wegen des Mondes. Helden sind für mich Leute, die Mut haben, klar sehen, neu sehen, etwas erfinden, Sachen voranbringen.
ZEITmagazin: Sind Sie glücklich?
Berggruen: Mehr als nicht glücklich, so würde ich das beschreiben.

Aus: Wirtschaft als Fiktion- Der Erzähler von Rainer Hank

In: FAZ 15.04.2012 ·
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Conti, so sieht es aus, hatte schon verloren bevor die Übernahmeschlacht eröffnet wurde.
An dieser Stelle kommt unser Mann ins Spiel. Er heißt Alexander Geiser, ist ein Deutsch-Kanadier mittleren Alters mit beeindruckender Statur und ebensolchem Selbstbewusstsein, das er mit verführerischem Charme zu verpacken weiß. Gerne bliebe er unsichtbar. „Financial Communications & Investor Relations“ nennt sich unspektakulär sein Arbeitsgebiet. Ein Dienstleister, ein PR-Mann, ein Berater, also, allerdings mit einem besonderen Auftrag: Eine Schlacht, die schon verloren schien, doch noch zu gewinnen. Und zwar mit einer Geschichte.
Geiser ist Geschichtenerfinder. Sein Job ist es, Schicksale durch Worte zu wenden. Einfach ist das nicht. Aber wenn es einfach wäre, bräuchte man Leute wie Geiser nicht, die hinterher Rechnungen stellen, die sich an den Honorarsätzen der großen Law Firms und Investmentbanken orientieren. Der Angriff der Schaefflers sei „egoistisch, selbstherrlich und verantwortungslos“ hatte Geiser in einer ersten Wutreaktion dem Conti-Chef zu sagen aufgetragen. Das war noch keine Meisterleistung, eher ein beleidigtes Gekläff. Doch dann kam die zündende Idee: Frau Schaeffler kämpfe nicht mit offenem Visier, ließ Geiser den Conti-Leuten ins Drehbuch schreiben. Feige angeschlichen habe sich der die Dame aus Franken, sich im Schatten der Intransparenz mit ausreichend Aktien eingedeckt, die dem Übernahmeopfer jetzt einzig noch die Kapitulation erlaube.
Damit war die Geschichte auf einer moralischen Ebene: David gegen Goliath, schön und gut, das ist sportlich. Aber nur solange David sich mit seiner kleinen Steinschleuder offen den Philistern zu erkennen gibt. Eine Mittelständlerin, die sich des Nachts anschleicht und Aktien einsammelt ohne ihre wahren Absichten kundzutun: Das ist nicht in Ordnung. Da ist keine Waffengleichheit. Geisers Schachzug entmachtet die gute Geschichte von David gegen Goliath und ersetzt sie durch die böse Geschichte vom feindlichen Überfall in der Nacht. „Nur deshalb konnten wir uns nicht wappnen und auf Augenhöhe reagieren“, ließ Geiser den Conti-Chef öffentlich sagen. Kein Fair Play.



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