Sonntag, April 15, 2012

Gelesen, verstanden, notiert 5


Aus dem Zusammenhang gerissen - Titanic

Aus: "Titanic“ als Zeitzeichen - An Bord dieses Schiffs war die ganze Menschheit von Gina Thomas in FAZ 3.3.2012

Jeder weiß, wie die Geschichte der Titanic ausgeht. Die Passagiere, die mit dem unsinkbaren Luxusdampfer den Atlantik überqueren wollten, wussten indes nicht, was ihnen bevorstand. Sie wussten nicht, dass das Schiff eine Metapher für die anmaßenden Gewissheiten einer fortschrittsgläubigen Welt werden sollte. Sie ahnten nicht, dass sie eine Überfahrt antraten, die geradezu sinnbildlich ist für unser aller Lebensreise ins Ungewisse. ...






Wie die schier unübersichtliche Literatur zur Titanic bezeugt, liegt die auch nach hundert Jahren nicht abreißende Faszination des Unglücks nicht nur darin, dass das Schiff den Glanz und den Hochmut einer Zeit verkörperte, die glaubte, die Natur durch ihre Schöpfungen besiegen zu können. Vielmehr war an Bord der Titanic die ganze Menschheit in ihren zahlreichen Facetten vertreten.

aus: Untergang der Titanic Eine geordnete Katastrophe Von CHRISTIAN SIEDENBIEDEL 

In FAZ 1.4.2012

Vor 100 Jahren ist die „Titanic“ gesunken. Heute wissen wir: Auch in Extremsituationen verhalten die Menschen sich anständig. Und gar nicht egoistisch.
Eine Jahrhundertkatastrophe, die seither Dichter, Maler und Filmemacher wie James Cameron („Titanic“ 1997) nicht losließ. Schließlich geht es um Grundthemen der Literatur: Eros und Thanatos, Liebe und Tod. Es geht aber auch um ein Grundthema der Ökonomie: die Verteilung knapper Güter. Schließlich gab es beim Untergang der „Titanic“ zu wenige Plätze in den Rettungsbooten. Ein Forscherteam um den Züricher Professor Bruno Frey hat deshalb die Passagierliste des Schiffes dahin gehend ausgewertet, wie die Leute auf der sinkenden „Titanic“ die knappen Plätze in den Booten verteilten.
Das tiefere Forschungsinteresse des Ökonomen: Wenn es stimmt, dass sich eine Regel immer im Extremfall bewähren muss, dann kann man am Verhalten der Menschen in Katastrophen etwas über ihr Wesen lernen. In der ökonomischen Theorie geht man schließlich (traditionell) vom „homo oeconomicus“ aus, einem Menschen, der sich eigennützig verhält. Im Gegensatz dazu hebt etwa die christliche Lehre seit ihren Ursprüngen die ureigene Fähigkeit des Menschen zu uneigennützigem Verhalten hervor.
Die spannende Frage: Wie verhalten sich nun Menschen wirklich, wenn es um Leben und Tod geht? Sind sie zu altruistischen Heldentaten fähig oder kämpfen rücksichtslos um ihr Leben? Werden sie im Überlebenskampf zum Tier, wie der Philosoph Thomas Hobbes meinte, der im Menschen des Menschen Wolf sah?
Freys klarer Befund: Der Untergang der „Titanic“ war - allem Katastrophenchaos zum Trotz - eine geordnete Angelegenheit. Zumindest herrschte keinesfalls allein das Prinzip „Survival of the Fittest“, „die Stärksten setzen sich durch“. Die Forscher errechneten und verglichen dazu die Überlebenswahrscheinlichkeiten der Männer, Frauen und Kinder an Bord. Frauen hatten demnach eine um 50 Prozent höhere Überlebenschance als Männer. Kinder hatten eine um 14,8 Prozent höhere Chance zu überleben als Erwachsene. „Das Prinzip ,Frauen und Kinder zuerst‘ wurde also tatsächlich befolgt“, schließt Frey aus den Zahlen.

Aus: Angst vor Plünderungen - Unesco stellt Wrack der Titanic unter Schutz

In SPON 6.4.2012

Ab dem 15. April fällt das Schiffswrack unter die Unesco-Konvention zum Schutz des kulturellen Erbes unter Wasser, wie die Organisation am Donnerstag mitteilte. Das ist erst möglich, wenn ein Wrack 100 Jahre unter Wasser liegt - für die "Titanic" gilt das ab dem 15. April.
"Der Untergang der Titanic ist im Gedächtnis der Menschheit verankert", erklärte die Chefin der Uno-Kulturorganisation, Generalsekretärin Irina Bokova, … in Paris. Er dürfe deshalb nicht zum Ziel von als "unwissenschaftlich oder unmoralisch" eingestuften Erkundungsfahrten werden.
Die Schiffslegende liegt in internationalen Gewässern und kann damit nicht von einzelnen Staaten exklusiv beansprucht werden. Die 41 Vertragsstaaten des Unesco-Abkommens können den Verkauf von erbeuteten Gegenständen verbieten sowie Plünderern die Einfahrt in ihre Häfen versagen.


Titanic: Untergang einer Versteigerung. Für 5500 Überbleibsel des Schiffes wird ein Käufer gesucht. Vergeblich. von Hannes Stein

in Die Welt kompakt 13.4.2012


Mehr als 5000 Objekte aus dem Wrack der "Titanic", die vor 100 Jahren gesunken ist, sollten beim Auktionshaus Guernseys in New York unter den Hammer kommen - darunter ein Ticket für jene berühmte Reise über den Atlantik, die kein gutes Ende nahm, ferner eine Porzellantasse aus der ersten Klasse, aber auch eine silberne Westentaschenuhr und eine Wollstrickjacke aus dem Koffer eines Passagiers, die ihm jetzt nichts mehr nützt.
Wer auch immer den Krempel ersteigern wird - laut Beschluss eines amerikanischen Gerichts darf er nur im Ganzen, nicht en detail erworben werden -, der erwirbt gleichzeitig den (eher theoretischen) Titel eines Steward der "Titanic": Er hat die heilige Pflicht, für das Wrack dort unten am Meeresgrund zu sorgen. Die Versteigerung - obwohl verschoben - ist im Grunde längst gelaufen. Anfragen waren schriftlich an das Auktionshaus zu richten, stand auf der Web-Seite. Was das denn heiße, wollten wir wissen. "Bedaure", sagte die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung. "Unser Haus kann sich nicht dazu äußern. Bitte rufen Sie unsere Pressesprecherin an." "Ja, es wird eine Pressekonferenz geben", sagte die Sprecherin. "Vielleicht. Wir wissen es selber noch nicht." "Wollen Sie mir eine E-Mail-Adresse da lassen?"
Während wir auf die E-Mail warteten, hatten wir Muße, ein bisschen zu grübeln, warum das Schicksal der "Titanic" die Nachwelt immer noch beschäftigt. "Ich muss gestehen, dass nichts in dem gesamten Krieg mich so sehr bewegt hat, wie es der Verlust der ,Titanic' ein paar Jahre vorher tat", schrieb George Orwell 1939. Er sprach vom Ersten Weltkrieg und schrieb weiter: "Ich erinnere mich an die entsetzlichen detaillierten Berichte, die laut am Frühstückstisch vorgelesen wurden, und ich erinnere mich, was mich in der langen Liste der Schrecklichkeiten am meisten beeindruckte: dass die ,Titanic' schließlich mit dem Bug voraus sank, sodass die Leute, die sich am Kiel festhielten, nicht weniger als 300 Fuß in die Luft gehoben wurden, bevor sie in den Abgrund stürzten. Dies verschaffte mir ein Gefühl des Versinkens im Bauch, das ich immer noch spüre. Nichts, was dann im Krieg geschah, verschaffte mir das gleiche Gefühl."

aus: Fortschritts-Skepsis nach dem Untergang der Titanic. Was bleibt, ist ein mitleidiges Lächeln. Kommentar von Werner Bartens 

in SZ 15.4.2012

Symbol für die Hybris des Menschen: Angetrieben von 60.000 PS und der Selbstgewissheit der Konstrukteure wurde die Titanic vor 100 Jahren in den Abgrund gerissen. Mit ihr ging auch der ungebrochene Glaube der Menschheit an den Fortschritt unter. Die westlichen Industrieländer haben sich längst aus der Schneller-Höher-Weiter-Konkurrenz veabschiedet, allenfalls die phallokratischen Ambitionen einiger Schwellenländer erinnern an den siegesgewissen Taumel der Titanic-Erbauer.
Der Mensch hat nach dem Untergang der Titanic zwar immer wieder Anstrengungen unternommen, seine Unfehlbarkeit gegenüber der Natur unter Beweis zu stellen. Der unplattbare Reifen und das bügelfreie Hemd gehören zu den ebenso bescheidenen wie vergeblichen Versuchen, den Launen des Alltags ein Schnippchen zu schlagen. Allenfalls die phallokratischen Ambitionen einiger Schwellenländer, in geologisch aktiven Gebieten der Erde das höchste Gebäude der Welt zu errichten (die Antenne zählt aber mit!), erinnern an den siegesgewissen Taumel der Titanic-Erbauer und ihr Schneller-Höher-Weiter. Die westlichen Industrieländer haben sich längst aus dieser Konkurrenz verabschiedet - und betrachten das Treiben wie Erwachsene den Wettlauf von Kindern um den größten Turm aus Bauklötzen.
Für das Manhattan-Project zum Bau der Atombombe wie für das Apollo-Programm mit dem Ziel Mondlandung wurden zwar ungleich größere Summen und mehr Techniker rekrutiert als für die Titanic. Doch sogar bei diesen Prestige-Projekten der US-Regierung galt es trotz aller Anstrengungen als ungewiss, ob die Bombe funktionieren würde - beziehungsweise ob der Wettlauf um den Weg ins All gewonnen werden konnte oder die Raketen schon beim Start krepierten.

aus: 100 Jahre nach Untergang Titanic-Gedenkfeiern auf hoher See in FAZ 15.4.2012   

Genau 100 Jahre nachdem die „Titanic einen Eisberg rammte, erklingt im Meer vor Neufundland das Schiffshorn. Passagiere zweier Kreuzfahrtschiffe gedenken an der Unglücksstelle der Opfer von damals.
Mit Schweigeminuten, Gottesdiensten und dem tiefen Klang des Schiffshorns wurde in Kanada an den Untergang der „Titanic“ erinnert - auf hoher See: Exakt an der Stelle im Nordatlantik, wo die „Titanic“ vor 100 Jahren sank, wurde in der Nacht zum Sonntag auf den Kreuzfahrtschiffen „Balmoral“ und „Azamara Journey“ der 1500 Opfer gedacht, die bei dem Unglück ums Leben kamen. Die beiden Momente - die Kollision mit dem Eisberg und der Untergang - zwischen denen sich das Schicksal der Menschen im Meer vor Neufundland entschied, standen im Mittelpunkt der Gedenkfeiern.
Auf beiden Schiffen hatten sich viele der Reisenden in Kostüme aus der Zeit des Untergangs gekleidet. Und es gab noch mehr Authentisches: Laut dem „The Chronicle Herald“ soll die Band auf der „Azamara Journey“ um 2.22 Uhr „Nearer, My God, to Thee“ gespielt haben, die Hymne, die auch das Orchester auf der „Titanic“ damals angestimmt haben soll.

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