Sonntag, März 04, 2012

Das perfekte Spiel - The perfect game



Zum Gedenken an Shoeless Joe Jackson, 1887 - 1951

  Die amerikanischen Sportaficinados kennen es sowohl als statistisches wie auch als ästhetisches Phänomen schon seit mehr als 130 Jahren: das perfekte Spiel, the Perfect Game. Die Statistik vernarrten Amerikaner lesen die Perfektion eines Baseball oder Football Spiels an bestimmten Kennziffern ab, kühl und mathematisch unbestechlich, so scheint es, aber dennoch mit einer grenzenlosen Leidenschaft für die Schönheit ihres lieblingssports, die sich im Streben nach dem perfekten Spiel, der totalen Überlegenheit, der vollkommenen Beherrschung von spielgerät, Platz und Gegner beweist.

Das letzte Perfect game im US-Baseball gab es 2007, als ein Werfer der Chicago White Sox , Mark Buehrle, in die Geschichtsbücher der Major League einging, als 18. Spieler in der über 125jährigen Geschichte des US-Baseballs. 1972 gelang den Miami Delphins als einziger Mannschaft jemals in den Annalen der National Football League die Perfect Season, Siege in allen Ligaspielen und der Gewinn der Krone im American Football, des Super Bowls. In diesem Jahr strebt der THW Kiel im Handball die perfekte Saison an.

Perfektion - der amerikanische Mythos
Immer wieder brachte der Profisport in den USA Spieler hervor, die in den Ruf gerieten, nahe an die Perfektion ihres Spiels zu kommen, Magic Johnson oder Michael Jordan im Basketball, Joe Montana oder Dan Mariono im Football, Ty Cobb oder Joe DiMaggio im Baseball, Wayne Getzky oder Sidney Crosby im Eishockey. Diese Nähe zur Grenze der Perfektion in seinem Sport macht erst  die schiere Unsterblichkeit eines Sportlers aus, das Bestreben, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen, Fähigkeiten zu besitzen, die andere nicht besitzen, und die Bereitschaft, immer wieder über die Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit zu gehen, verleihen Heldentaten Unsterblichkeit, grenzenlose Verehrung. Individualismus eingebunden in ein perfekt organisiertes Kollektiv - aus diesen scheinbaren Gegensätzen und ihrem Zusammenspiel speist sich der Antrieb zum Erfolg nach amerikanischer Lesart. Das Kollektiv allein kann nicht überraschen und die besonderen Momente setzen, die ein Spiel entscheiden. Der Individualist kann seine spezifischen Fähigkeiten nicht über die Dauer eines Spiels oder einer Saison zum Tragen bringen, wenn das Kollektiv nicht die Räume schafft, in dem sich der Einzelkönner selbst verwirklicht und in den entscheidenden Momenten eines Spiels beweist.



http://www.youtube.com/watch?v=v4Dm0lZTqCc&list=FLYZyEQvnk89h3Co5H0_d8Nw&index=15&feature=plpp_video
Magic Johnson in Aktion.


Aus diesem Verständnis heraus erwachsen die spezifischen Erwartungen, die der Fan an seine Helden heranträgt, wenn das Zusammenspiel der Kräfte zum richtigen Zeitpunkt funktioniert, wird Geschichte geschrieben, dann entsteht die Schönheit des Spiels, dann erhält auch der weniger interessierte Zuschauer den Hauch einer Ahnung von den Möglichkeiten dieses Spiel, den Ball, den Puck oder den Schlager annähernd perfekt zu beherrschen. Da entscheiden Hundertstelsekunden, die feinste Körperbeherrschung und die Fähigkeit, Situationen vorauszuahnen über den schlußendlichen Erfolg. Die Schönheit der Bewegung, der Ausführung des taktischen Spielzuges können dabei noch wesentlich faszinierender sein, als die Frage von Sieg oder Niederlage. Die Schönheit ist unabhängig vom Erfolg, vom Ausgang des Spiels. Sie ist sich selbst genug und deshalb nur für die wahren Kenner des Sports nachvollziehbar, die eine Vorstellung davon entwickelt haben, welche Feinheiten, welche Kunstfertigkeit dazu gehört, seinem Sport auf der absoluten Höhe der technischen, physischen und psychischen Möglichkeiten nachzugehen. 


http://www.youtube.com/watch?v=SVLxm9obNcE&list=FLYZyEQvnk89h3Co5H0_d8Nw&index=17&feature=plpp_video
Zinedine Zidane

Zur ewigen Erinnerung
Die Vergänglichkeit des Augenblicks, in dem es geschieht, in dem der Ball getroffen wird und seine Flugbahn so vollendet ist, dass er vom Mitspieler ohne Probleme aufgenommen werden kann, ist dabei die Gewissheit, die der Sportler und sein Beobachter auf der Tribüne oder am Fernsehen teilen. Solche Augenblicke sind selten, solche Momente sind kostbar und müssen deshalb ausgekostet und genossen werden, in endlosen Geschichten weitererzählt und damit quasi der Ewigkeit und der nie enden wollenden Erinnerung anheimgegeben. 
Die Gewissheit, dass dieser Moment möglicherweise nie wieder kommt, dass die Sekunde der Vollendung sich möglicherweise im Sportlerleben nie wiederholen wird und dass der Zuschauer einem Ereignis beigewohnt hat, das so niemals mehr eintreten wird, das eint beide und schafft eine Gemeinsamkeit, derentwegen es sich lohnt, immer wieder ins Stadion oder in die Halle zu gehen oder sich den Strapazen des Trainings und Perfektionierens auszusetzen. Es sind diese Sekunden, in denen die Welt still steht, in denen der Zuschauer und der Sportler im Betrachten und im Vollzug erst ahnt, dass sich etwas Besonderes ereignet, und dann, wenn die Gewissheit des Gelingens sich einstellt, im ekstatischen Jubel über das Geschehene ganz und gar bei sich sind. Eine endlos dauernde Zeit der Erwartung hat dann ein Ende gefunden und das Ereignis wird künftig Gradmesser aller weiteren Bemühungen sein. 


In diesen endlos scheinenden Millisekunden der Entscheidung sprengt das Spiel seine eigenen Grenzen und wird zum Gegenentwurf des Alltäglichen, in dem die Gesetze der Schwerkraft und der Mechanik uns alle beherrschen, wo wir den Naturgesetzen unterworfen sind und die natürlichen Grenzen unserer menschlichen Leistungsfähigkeit nie überschreiten können. Dafür aber, quasi als einzig auf sich selbst bezogenen Aktion ohne jegliche praktische Relevanz, steht die sportlich perfekte Bewegung, das perfekte Spiel, die perfekte Saison. Der moderne Profisport ist noch lange nicht der Gegenbeweis und das natürliche Ende dieser Perfektion. Dies, weil die Idee der Perfektion nicht auf den Erfolg rekurriert, sondern auf den Ablauf, das Ereignis selbst, die Umsetzung des Gedankens in die Tat, den Sieg der perfekten Mischung aus Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Gewandtheit über die schlichte Ausführung der Grundlagen eines Sports. 



Mehr als das Spiel selbst
Der Sportler oder die Mannschaft, dem oder der das perfekte Spiel gelingt, beweist gleichzeitig, dass es etwas gibt, das über den schnöden Nutzwert hinausweist und dem Leben auf und abseits des Sportplatzes einen völlig neuen Sinn verleiht. Es kann kein Zufall sein, dass die wahren Könner, die Künstler unter den Sportlern den unfassbar starken Drang zur Perfektion mitbringen, der sie immer und immer wieder dasselbe üben lässt, bis Geist und Körper jeden Hauch von Nützlichkeitsüberlegung im Vollzug liegen lassen und nur noch um ihrer selbst willen funktionieren.

Anders als in den USA haben in Europa die Sportklubs und ihre Spitzenspieler lange Zeit eine andere Rolle gespielt. Während in der upper class Sport mehr der ritterlichen und Gentleman-Erziehung vor allem der Söhne galt, ergriff die lower class die Gelegenheit, sich ausgelassen der eigenen Kraft und Fähigkeiten im sportlichen Wettbewerb zu versichern und im Sieg über konkurrierende Teams den eigenen Stellenwert im sozialen Gefüge zu festigen. Sportvereine wurden so zu Sinn- und identitatsstiftenden Einheiten, die sich durch Sieg und Niederlage bewährten, die im sportlichen Erfolg auch regionale, ethnische oder gar konfessionelle Überlegenheit bestätigten. Erst die ausgeklügelten Marketing-Überlegungen der Neuzeit, die Medien und die Kommerzialisierung des Sports auch in Europa brachten es mit sich, dass den Besten ihres Sports eine neue Aufgabe zugewiesen wurde. Wurde Uwe Seelen in den sechziger Jahren zunächst nur der Status eines herausragenden Leistungsträgers zugestanden, erhielt er seinen Kultstatus, als er dem Heimatverein treu blieb, statt der Verlockung des Geldes zu folgen. Als Franz Beckenbauer etwa 15 Jahre später seine Karriere in den USA ausklingen lassen wollte, war sein Status als Kultsportler stark gefährdet.

Künstler und Arbeiter

Uwe Seeler und Franz Beckenbauer waren und sind jeder auf seine Weise Stars und Superstars des Fußballspiels in Deutschland. Dennoch wurden sie während ihrer Laufbahn ebenso wenig wie ihre Nachfolger am Ziel des perfekten Spiels gemessen. Die Nationalmannschaft von 1972 ließ für kurze Zeit eine Ahnung davon aufkommen, was das perfekte Fußballspiel sein konnte, so wie es die Brasilianer seit 1958 schon geschafft hatten. Schon 1974 aber, als man sogar die Weltmeisterschaft im eigenen Welt gewann, errang man sie mit einfachsten Mitteln, während der Gegner in Schönheit starb. In Deutschland setzte man demzufolge wieder auf Effizienz und Arbeit, auf die Macht des Kollektivs und die zermürbende Kraft des Athleten gegenüber dem Künstler. So hatte schon Sepp Herberger 1954 die ungarischen Fußball-Künstler besiegt. 

Hinter dem Euphemismus der deutschen Tugend verbarg sich also immer auch der Verzicht auf jeden Anspruch, das Spiel in all seinen Belangen beherrschen zu wollen. Fußball wurde gearbeitet, Fähigkeiten wurden geschult und automatisiert. Nicht nur im Fußball, auch im Handball konnten hoch begabte Ballkünstler nicht zu weit aus dem Kollektiv herausragen. Die Handballer, die 1978 Weltmeister wurden, hatten ein ausbalanciertes Verhältnis von Disziplin und individuellem Können im Team, der Trainer Vlado Stenzel setzte auf physische Konkurrenzfähigkeit und erst dann auf technische Vollendung. 


Vor diesem Hintergrund galt lange Zeit das Europameisterschaftsendspiel von 1972 als dasjenige, das der möglichen Perfektion am nachsten kam. Heute sind es der FC Barcelona und die spanische Fussball-Nationalmannschaft, die fürs dieses Prädikat stehen. Und doch fehlt dem Fußball europäischer und südamerikanischer Prägung weitgehend die künstlerische, genialische Linie. Spieler, die ihr nahe kommen, wie Lionel Messi oder Zinedine Zidane, sind so seltene Exemplare ihrer Spezies, dass sie nur als unerreichbare Vorbilder fungieren, die aber nicht das Bild vom Profi-Fußballer prägen. Der europäische und vor allem der deutsche Fußball hat den Sportler als Arbeiter, als funktionierender Angestellter gepflegt. Die Mannschaft ist der Star war denn auch zeitweise das entscheidenden Motto. 



Mit den deutschen Tugenden, die den deutschen Fußball weltweit erfolgreich machten, könnte man ebenso gut auch einen Einzelhandel oder eine öffentliche Verwaltung betreiben. Kampf, Schweiß, Anstrengung, Mühen - Fußball in Deutschland wurde jahrzehntelang gearbeitet, nicht gespielt, schon gar nicht zelebriert. Schlimmer noch: Keine Sportart hat in Deutschland die Menschen mit schier magischen Fähigkeiten hervorgebracht. Am nächsten kam dem vielleicht Franz Beckenbauer, in Vollendung war da aber keiner, der diesem Anspruch gerecht hätte werden können.

2012: Olympische Vollendung?

2012 ist wieder ein olympisches Jahr und es ist das Jahr eines weiteren großen Fußball-Turniers, der Europameisterschaft. Olympia wird eine Fülle von magischen Momenten hervorbringen, beim Fußball sind sich die Experten noch nicht sicher, was sie erwarten können. Die Fans haben zuletzt eine Ahnung davon bekommen, was Fußball auch sein kann, wenn da elf Spieler auf dem Platz stehen, die ihr Spielgerät lieben, die eine Vorstellung davon haben, wie aus dem Arbeitsspiel eine Kunstform gemacht werden kann, und die Freude beim Vollzug ihres Spiels empfinden, die sich dem Publikum mitteilt. Effektivität allein ist nichts, was dem Spiel seine Schönheit verleiht, da kann man den amerikanischen Sport- und Sportlermythen noch einiges abschauen. Aber das ist etwas, was wir Fans, Zuschauer und Analysten selbst erst noch lernen müssen.



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