Ansgar Heveling muss bis dato ein sehr beschauliches Leben als Hinterbänkler der CDU/CSU- Bundestagsfraktion geführt haben. Als ihn kürzlich die Anfrage des Handelsblattes ereilte, einen Kommentar zum Thema web2.0 zu schreiben, war es allerdings mit der Beschaulichkeit vorbei. Heveling setzte sich - vermutlich - an seinen PC und verfasste einen kurzen Kommentar, der in seinem Gehalt klar und eindeutig war und ihm am Ende ein Medien- und Internetecho einbrachte, von dem man als Nachwuchspolitiker gemeinhin wohl mal träumt, aber sich so, nämlich als shitstorm, nicht gewünscht hatte.
The Hollow Men T. S. Eliot 1925 Mistah Kurtz — he dead.
A penny for the Old Guy
I
We are the hollow men
We are the stuffed men
Leaning together
Headpiece filled with straw. Alas!
Our dried voices, when
We whisper together
Are quiet and meaningless
As wind in dry grass
Or rats’ feet over broken glass
In our dry cellar
Es ist eine seltsame Sache mit dem Internet, der Schwarmintelligenz, der Weisheit der vielen. Vieles soll sie ja ausrichten können, die Globalisierung von Ideen im Nanosekundentakt, die subversive Unterminierung staatlicher Gewalt, die Verbindung kreativer Leistungszentren rund um den Globus - das Land der klugen und weisen, die virtuelle Gelehrtenrepublik, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag, durchgängig geöffnet. Eine Welt jedoch, in der Transparenz und Teilhabe zwar immer wieder als unabdingbar gefordert werden, jedoch in der Praxis hinter dem Wunsch zurück stehen,geschützt in der Anonymität des Netzes zu existieren.
Sprache gibt nicht nur die Realität falsch wider -
es gibt gar keine Realität, die man widergeben kann.
Jean Baudrillard
einestages - Geschichte von innen
In den Regalen stehen sie millionenfach, Fotoalben, die ihre Besitzer in kurzen Hosen, mit Zahnlücken oder Konfirmationsanzug oder anderen Accessoires der jeweiligen biographischen Epoche zeigen. Unterm Kopfkissen finden sich dann die Tagebücher, hitzig geschriebene Beschreibungen des alltäglichen Einerleis, das den Menschen zum Erwachsenen macht. In Briefen, gut verstaut in unzähligen Schuhkartons, finden sich die Nachrichten von irgendwo an irgend wen, der dem Schreiber gerade wichtig war. Fotos, Tagebücher, Briefe - längst als Träger von Geschichten aus und über die Geschichte entdeckt. Persönlichkeiten der Zeitgeschichte haben sie hinterlassen und die Wissenschaft betrachtet es als ihre Aufgabe, aus ihnen zusätzliche Informationen zu destillieren, die historischen Ereignissen erst ihre Tiefenschärfe verleiht.
"Im Moment bin ich mehr verwirrt." O-Ton Joachim Gauck am 19.2.2012
"Frau Bundeskanzlerin, meine Damen und Herren, die Sie mich nominiert haben. Das ist natürlich für mich ein besonderer Tag, wie es in meinem Leben manche besondere Tage gegeben hat. Und am meisten bewegt es mich, dass ein Mensch, der noch geboren ist in diesem finsteren, dunklen Krieg und der 50 Jahre in der Diktatur aufgewachsen ist, und hier seine Arbeiten getan hat, nach der Wiedervereinigung, die Sie dankenswerterweise erwähnt haben, dass ein solcher Mensch jetzt an die Spitze des Staates gerufen wird.
Es
ist geschehen, was viele Experten schon lange als unausweichlich
bezeichnet hatten, der Bundespräsident Wulff müsse zurücktreten. Es ist geschehen und es zeigt sich, dass der
Rücktritt keineswegs eine befreiende Wirkung hat, sondern nur
wiederum offenlegt, wie wenig souverän die verantwortlichen Damen
und Herren mit der Situation umzugehen verstehen. Wulff, kaum 48
Stunden aus dem Amt, schrumpft innerhalb von Nanosekunden zu einer
publizistischen Fußnote. Allenfalls das Ergebnis der
staatsanwaltlichen Ermittlungen wird noch einmal für Aufsehen, für
ein geringes öffentliches Aufsehen, sorgen. Schon als die Meldung
vom Antrag der Hannoveraner Staatsanwälte auf Aufhebung der
Immunität über die Bildschirme geisterte, wies man eifrig darauf
hin, dass 80 bis 90 Prozent - so genau wollte man es dann doch nicht
wissen - der aufgenommenen Ermittlungen ergebnislos eingestellt
wurden. Wulff hat diese Erkenntnis nicht mehr geholfen, er wird nun
die Ermittlungen über sich ergehen lassen und feststellen, dass
Vorwürfe, die eben noch, während seiner Amtszeit inkriminiert
wurden, als belanglose Petitessen abgetan werden und auf den hinteren
Plätzen der Meldungsspalten landen.
Und
nun, nachdem er gegangen ist, wird man auch zugeben können, dass die
Fehler des Niedersachsen nicht das Zeug für eine veritable
Staatsaffäre hatten und haben. Statt dessen gilt es nunmehr, die
Strecke der Verlierer zu sichten, Gewinner und Profiteure auszumachen
und sich nach neuen Highlights umzusehen. Wulff ist weg und es
scheint, als habe sein Abgang schlussendlich mehr Bedeutung für die
politische und gesellschaftlich führende Kaste als für den
Durchschnittsbundesbürger. Es muss in den letzten Wochen einer Menge
von Angehörigen der Parteien und Parlamente zigfach eiskalt über
den Rücken gelaufen sein, als ihnen klar wurde, wie dünn das Eis
ist, auf dem sie über die öffentliche Bühne schliddern. Kleinere
und kleinste Verfehlungen werden unter dem Brennglas der öffentlichen
Aufmerksamkeit plötzlich wichtig und von angeblich öffentlichem
Interesse. Manch einer mag sich gefragt haben, ob ein unbezahltes
Knöllchen, ein großzügiges Geschenk oder die Ex-Freundin ihm noch
gefährlich werden könnten. In vielen Gesprächsrunden, in denen die
Causa Wulff diskutiert wurde, hallte der schiere Schrecken nach, der
sich verbreitet hatte, nachdem es wieder einen aus der höchsten
Riege der politischen Verantwortungsträger herauskatapultiert hatte.
Offenbar wurde schlagartig, dass keine Deckung wasserdicht, kein
Versteck unauffindbar und kein Gerücht wirksam zu stoppen ist. Die
Illusion, angesichts der eigenen Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit
vor solchen Anwürfen geschützt zu sein, zerstob knallartig und
verbreitete kurzfristig Angst und Schrecken. Welche Kontakte zu den
Medien sind noch was wert? Was ist von dem Bonmot des Springer-Chefs
Döpfner zu halten, der gesagt hatte, wer mit der Bild-Zeitung nach
oben komme, der gehe mit ihr auch wieder (r)unter? Eine Drohung, eine
Klarstellung?
Wie
kann denn in Zukunft noch ein vertrauensvoller Kontakt aufgebaut und
gepflegt werden, wenn die Regeln, nach denen das Spiel gespielt wird,
so volatil und leicht zu verändern sind? Wer sich die Mühe
oder den Spaß gemacht hat, möglichst viel über die Angelegenheit
zu lesen und dabei auch diejenigen Stimmen zur Kenntnis zu nehmen,
die nicht zu den meinungsführenden Publikationen gehören, der
konnte feststellen, dass außerhalb der Festung Berlin-Mitte schon
mal eher der gesunde Menschenverstand die Oberhand behielt und dass
oftmals eine eigenartige Haltung des staunenden Beobachters
wahrzunehmen war, der nicht glauben mochte, was sich da vor seinen
Augen abspielte. Journalisten, die oft und gerne mit ihrem
Nicht-Wissen kokettieren und gerade daraus die Selbstverpflichtung
zum unerbittlichen Nachbohren und -suchen ableiten, stellten
plötzlich fest, dass Politiker Menschen sind, Menschen, die
möglicherweise verführbar sind und möglicherweise auch unüberlegt
handeln. Journalisten, die extrem darauf aus sind, sich bestens zu
vernetzen und Kontakte in Alle Himmelsrichtungen zu haben, diese
Journalisten ließen zu, dass auf diese Beziehungen und ihre Pflege
der Schatten des pauschalen Verdachts fiel. Und eben diese
Journalisten lassen gerade indessen Moment ihre Beziehungen spielen,
um möglichst nahe an den Entscheidungsprozess hinter verschlossenen
Türen zu kommen, wenn es darum geht, den Nachfolger zu küren. Und
es funktioniert, wie man allenthalben lesen kann. Die Quellen
sprudeln, die Informationen werden ausgetauscht, bald schon werden
Dossiers in Redaktionen vorliegen, die dort nicht hingehören, werden
Detailinformationen aus vertraulichen Gesprächen veröffentlicht,
die so nie an die Öffentlichkeit sollten. Dass auf der Methode
dieser Informationsbeschaffung der Hauch der moralischen
Fragwürdigkeit liegen könnte, ist als Argument in der
(ver-)öffentlichen Diskussion nicht zugelassen. Durchstechereien und
Indiskretionen sind Scoops, sind Erfolge, die man sich wie Skalps an
den Gürtel hängt und die das Ansehen in der Meute sichern.
Frank Schirrmacher spricht aus, was zur Ursachenforschung beiträgt
Manch
einem mag jedoch der Gedanke durch den Kopf gegangen sein, wie
unsicher und gefährdet die eigene Stellung im politischen und
gesellschaftlichen Gefüge tatsächlich ist, wenn man diese Stellung
als Wahlamt oder per Ernennung erhalten hat. Die eben schon einmal
angesprochenen Gesprächsrunden im TV vereinen regelmäßig
Angehörige dieser privilegierten Stände, die über ein Mitglied
urteilen sollten oder wollten, das offensichtlich gegen den Kodex
verstoßen hatte, der da lautet "übertrieb' es niemals!"
in diesem Licht nämlich wurde über normale Abläufe gesprochen,
wurde erklärt, wer welche Quellen besitzt, um an Güter des
täglichen Bedarfs zu kommen, wer welche Kontakte hat, um in den
Genuss bestimmter Erholungs- und Reisevorzüge zu kommen. Und am
Rande wurden sogar die Journalistenrabatte thematisiert.
Man
hat dabei sogar erstmals zugelassen, dass über die sozialen und
gesellschaftlichen Implikationen der Vorwürfe gegen Wulff gesprochen
wurde. Wulff, der Aufsteiger, der angepasste Underdog, der
beifallssüchtige Loner, der aus Furcht vor dem Abstieg Fehler über
Fehler machte. Wer auch immer diese Diskussionsführung begonnen hat,
der hat in der Sache zutreffend, aber in der Zielrichtung obskur,
zugelassen, dass die gesellschaftliche Errungenschaft der sozialen
Durchlässigkeit, der Chancengleichheit und der Förderung nach
Leistung, nicht nach Geburt und Abstammung, in Zweifel gezogen wurde.
Dabei hat ein anderes Beispiel uns trefflich vor Augen geführt, dass
der Abkömmling weiland höherer Stände keineswegs moralisch
gefestigter handeln muss.
Stattdessen
hat die deutsche Aufsteigergesellschaft einen der ihren dafür
bestraft, gegen die Regeln der Diskretion und Obacht verstoßen zu
haben, die an die Stelle der vormals gültigen Gottgewolltheit
bestimmter Zustände getreten ist. Kevin Costner hat in seiner
Trauerrede für Whitney Houston darauf angespielt, dass es zum Fluch
des Ruhms werden kann, sich ständig der Frage stellen zu müssen, ob
man denn noch immer gut genug sei, um den Ruhm zu verdienen. In
Deutschland hat man die Frage anders gestellt: Ist man verschwiegen
und clever genug, um noch zum Club dazu gehören zu dürfen? In den
Talkshows wurde dieses Dilemma offenbar, als man sich nicht auf
gültige moralische Standards einigen konnte, die anzulegen seien. Es
war offenbar nicht möglich, Bezug auf einen allgemeingültigen Kodex
zu nehmen, der unbestritten wäre. Statt dessen wurden
formalrechtliche Argumente ebenso benutzt und missbraucht wie
nassforsche Unbekümmertheit. Grundgesetz und Strafgesetzbuch plus
Richtlinien und Handlungsvorschriften sind offenbar weder sakrosankt
noch bekannt, so dass sich ein jeder erst einmal ausprobieren kann,
bis er gesagt bekommt, dass er die Grenze des Erlaubten überschritten
hat. Klar, dass in diesem Zwielicht gut über Verfehlungen und Schuld
zu streiten ist.
Insofern
kann man die Causa Wulff und ihre mediale Behandlung als
Selbstgespräch der meinungsführenden Gruppen verstehen, ein
interner Klärungsprozess, bei dem man über die Klubmitgliedschaft
eines einzelnen stritt und sich dabei von Millionen zuschauen ließ,
die nicht dazu gehören. Die Frage, ob für die Zugehörigkeit zu
diesem Klub tatsächlich ein objektiv belegbarer Leistungsnachweis
notwendig ist, stellte sich dabei nicht.
Und
so besteht die Gefahr, dass die Regelung der Wulff-Nachfolge nur dazu
dient, die Mechanismen der Gesellschaft, so wie wir sie um uns herum
haben, nur zu bestätigen und zu stärken.
Ob Wulff bis heute gescheitert ist, weil er Fehler gemacht hat, weil
er sich etwas zuschulden hat kommen lassen, oder weil er unsere
gültigen moralischen Standards verletzt und zu lange gezögert hat,
sich dazu zu bekennen, bleibt völlig offen und wird auch nicht bei
der Staatsanwaltschaft Hannover oder den zuständigen Gerichten
geklärt werden. Es würde einer öffentlichen Debatte bedürfen, um
diese Frage zu klären. Einer Debatte mit Beteiligung aller
gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen. Das Amt des Bundespräsidenten
könnte, wenn es denn tatsächlich Schaden genommen hat, ein weiteres
mal beschädigt werden. Dann nämlich, wenn der Nachfolger einfach
zur Tagesordnung übergeht. Der König ist tot, lebt der König?
Make
love, not war. Hippie-Weisheit Oh
yeah? Try paying the fucking rent with it. Keith Richards
Die
heute über 50jährigen gehören zur Generation, die das Sagen
übernommen hat. Die übliche kurzzeitige Regentschaft einer
Altersgruppe, die bald schon wieder von der kommenden Generation
abgelöst werden wird. Das ist keine neue Erkenntnis, nur eine
Einsicht, wenn man feststellt, Teil dieser Altersgruppe zu sein,
Erfahrungen und Einsichten zu teilen, Zugehörigkeit und Gewissheiten
entwickelt zu haben, die schon wieder nach einem nur kurzen
Intermezzo im Lichte der macht von nicht unbedingt neuen, aber
wenigstens anderen Erfahrungen und Einsichten abgelöst werden . Man
stellt es fest und geht zur Tagesordnung über, denn es ist noch
genug an Arbeit zu erledigen, Entscheidungen zu treffen und Dingen zu
regeln.
Bei Tische
aber liest sich dies gelegentlich anders, wenn der gesellschaftliche
Rahmen, das nette Gespräch, das gute Essen, die entspannte
Atmosphäre es zulässt, sich über so etwas wie Werte, Erziehung,
Maßstäbe zu unterhalten.
Dabei werden oft und gerne Geschichten erzählt, die einander ähneln,
Wegmarken werden benannt, die viele teilen, Episoden der jüngeren
Geschichte werden dafür verantwortlich gemacht,dass dies Denken
und Werden diese oder jene Wendung genommen hat. Die Gesellschaft
beginnt dann gelegentlich in diesen gemeinsamen Erinnerungen zu
schwelgen, die Frage taucht auf, durften Sie schon 1972 Willy Brandt
wählen? Waren sie als Brockdorf gestürmt wurde? Waren sie im Bonner
Hofgarten dabei? Waren Sie im RCDS oder in der Juso-HSG? Wackersdorf?
U2 in Berlin? Der 9. November 1989?
Und schon bekommt man ein Gespür
dafür, wie sich quasi eine innere Ausdifferenzierung ergeben hat,
schon als die Ereignisse stattfanden, als der Sog der Erlebnisse noch
seinen ganz speziellen Zauber entfaltete und die von ihm erfassten
Menschen in die ihnen je eigenen Richtungen zu ziehen begann. Von
diesen Markierungen im kollektiven Gedächtnis ziehen sich dann
individuelle Entwicklungen, die belegen, wie völlig inkompatibel die
Schlussfolgerungen aus den Erlebnissen miteinander gewesen sein
können, obwohl sie auch 30 Jahre später noch beharrlich mit einem
einzigen gemeinsamen Ursprung verbunden werden. Dabei scheint dieser
gemeinsame Ursprung lediglich so etwas wie ein
Durchgangsbeschleuniger gewesen zu sein, ein Initiaionsritus
vielleicht, ein Ausdruck gemeinsamer Interessen oder Vorlieben, nicht
mehr, nicht weniger. So haltbar sind diese Bande, dass auf ewig der
Streit zwischen Beatles- und Rolling Stones-Fans weitergeht und sich
an der Struktur der Gesellschaft, ihren Äusserungsformen, ihrem
Verteilungs- und ihrem Gerechtigkeitsproblem jedoch nichts geändert
hat.
Manche
Kommentare in den Medien beginnen immer verzagter und verhaltener zu
klingen, dabei aber auch, zumindest gelegentlich, immer deutlicher
und klarer. Angesichts der Komplexität der Welt und ihrer Probleme,
die sich weder in einem Anti-Kriegs-Slogan noch in einem
3-Minuten-Protestsong lösen lassen, kann man diesseits der 50 schon
einmal melancholisch und zornig werden.
Dies vor allem, wenn man die
Anfänge mit dem zwischenzeitlichen Ergebnis, dem aktuellen Zustand
der Welt, vergleicht. Trotz der Warnungen des Club of Rome 1972 waren
wir optimistisch, zur rechten Zeit die richtigen Antworten auf die Fragen der Zeit geben zu können. Und tatsächlich, es fanden
sich jede Menge Antworten von jeder Menge unverbrauchter Talente, teils brillant formuliert, allein, es fehlte immer wieder an den
notwendigen Mehrheiten oder den günstigen Umständen.
Der Sturm der
Begeisterung um die Obama-Wahl 2008 gab ein letztes Mal noch einen
Hauch von der Begeisterung frei, die Jahrzehnte zuvor die Woodstock
Generation auf den Weg gebracht hatte. Und keine vier Jahre später
steht der Mann, der, sich den realen Gegebenheiten beugend, für eine
weitere große Enttäuschung gesorgt hat, wieder zur Wahl an. Und in
Ermangelung eines besseren Entwurfs und in Erinnerung an den Kater
vom letzten Mal schauen wir teilnahmslos zu, wie die Dinge sich in
den USA entwickeln. Auf unserer Seite standen etwa Gerhard Schröder oder
Joschka Fischer am Ende ihrer Laufbahn nicht mehr als Umwälzer und
Veränderer da, sondern als Verwalter der realen Machtverhältnisse
und zuguter letzt Profiteure der eigenen Karriereplanung. Und es
gehört mittlerweile zum abgeklärten Ton der Generation 50plus dazu,
sich darüber nicht mehr aufzuregen. Dazu hat man selbst nur
zu intensiv die Erfahrung gemacht, wie schwer es mitunter sein kann,
die fucking rent zu zahlen und seine Träume verwirklichen zu wollen.
Stoff für Songs, Filme oder Feuilletons bietet es dennoch
allemal. Die
Ernüchterung der Woodstock-Generation geht einher mit der Einsicht,
dass die Geschichte keine Versuchsanordnung für Erstsemester und
keine Selbsterfahrungsgruppe für ambitionierte Aufsteiger ist. Rudi
Dutschke hatte in einem Fernsehinterview die Behauptung aufgestellt,
wir seien nicht die nützlichen Idioten der Geschichte. Am Ende sind
wir uns da allerdings nicht mehr ganz so sicher:
Die Atomkraft-nein-danke-Idee
hat Fukushima nicht verhindern können,
alle Europa-Sonntagsrhetorik
hat den Eurocrash nicht vermeiden helfen können.
Die
Friedensbewegung sieht sich heute mit verlorenen und vergeblichen
Kriegen in Afghanistan und Irak gegenüber.
Die liberalen
Bürgerrechtsideen der 70er Jahre flankieren heute Mehr oder minder
hilflos die Oligopolisierung des Internets.
Das wiedervereinigte
Deutschland kämpft mit Rechtsradikalismus und
Verteilungsstreitigkeiten.
Die Zeit für die nun herrschende
Alterskohorte, die Probleme innerhalb ihrer Amtszeit zu lösen, wird
knapp. Und die Hoffnung, dass dies überhaupt ein realistisches
Projekt sein könnte, schwindet immer mehr. Es sei denn, man gehört
der nächsten oder übernächsten Generation an, die an die
Schaltzentralen drängt, um ihre Vorstellungen zu realisieren und die
altersweisen Vorgänger aufs Altenteil zu schicken.
Es
wird höchste Zeit, dass man sich mit dem Zustand der Zeit näher
befasst und die Ursachen unserer Probleme einmal unabhängig vom
bisher Wünschbaren untersucht. Wenn wir nicht wie Faust in unserer
Studierstube an unserem Wissensreichtum einerseits und dessen
Effektlosigkeit andererseits verzweifeln wollen, müssen wir
vorbehaltlos auf die Suche nach den Fehlern im System gehen, ohne
dabei die Verhältnisse wieder einmal vom Kopf auf die Füße stellen
zu wollen. Allein der Streit darüber, was Kopf und was Füße denn
sind, würde diesen Prozess unendlich aufhalten und am Ende
stoppen.
Dieser
Prozess, gemeint als Abrechnung einerseits und als Bewegung
andererseits, konnte seinen Anfang mit der Erkenntnis nehmen, dass
wir keine endgültigen Lösungen finden müssen, sondern optimale,
dass wir den Blick nach vorn mit einem Blick zurück und um uns herum
verbinden müssen, kurz: Dass wir nicht das Ende der Geschichte sind,
sondern nur ihre Fortsetzung als Zwischenstation in eine ungewisse
Richtung. In weiten Teilen der Welt ist der materielle Fortschritt
dem ethisch-moralischen weit voraus, in anderen Teilen der Welt stellt
sich diese Frage noch überhaupt nicht. Noch immer nicht.
Diese
Generation könnte anders als die vorhergehende über solche Fragen
nachdenken und entscheiden ohne die Hypothek eines weltumspannenden
Vernichtungskrieges, wenngleich mit der weiter bestehenden Sorge
wegen der weltumspannenden Konfliktfelder. Kann man aus der
Geschichte lernen? Sicher, vor allem wie grandios große Ideen
scheitern können und wie niederträchtig der Mensch seinen
Mitmenschen behandeln kann. Die Geschichte endet nicht, sie wechselt
ihre Richtung, Geschichte springt nicht, sie führt unterschiedliche
Phänomene zusammen und konfrontiert uns mit ihren Konsequenzen. Die
Geschichte bietet aber die großzügige Gelegenheit, aus ihr zu
lernen, wenn man bereit ist, nicht den Fehler zu machen, sie
wiederholen oder nachträglich ändern zu wollen.
Was
dürfen wir also hoffen? Dürfen wir hoffen? Wäre es nicht völlig
unhistorisch und eher tragisch gedacht, wenn wir alle Hoffnung fahren
lassen würden? Hoffnung allein auf das Fortbestehen des Status quo
und das Vermeiden der ultimativen Katastrophe, woraus auch immer die
bestehen mag, wäre ein bescheidener Ansatz, um Utopien, in deren
Namen wieder Zwang und Konflikt gesellschaftsfähig würden, zu
meiden. Halten wir doch einfach die Widersprüche der Wirklichkeit
aus, schaffen die utopielose Utopie, richten uns in der
hoffnungslosen Hoffnung ein - vielleicht ist das eine Art von
Vermächtnis unserer Generation an die nachfolgenden.
Lenken
wir also bei Tisch das Gespräch künftig auf dieses Thema, stiften
wir die neue Gemeinsamkeit und nehmen den alten Spruch, dass wir die
Welt nur von unseren Kindern geliehen hätten, ernster als noch
zuletzt....