Samstag, Mai 26, 2012

Welcome to Kassel - Die documenta & die Stadt


In Deutschland gibt es verschiedene Zeitrechnungen. Der eine teilt die Geschichte seines Landes zum Beispiel in die Phase vor der Wiedervereinigung und nach der Wiedervereinigung ein, der andere unterteilt sie in Vor-Schröder und Nach-Schröder, Vor- Schumi - Nach-Schumi. 
In Kassel ist das anders. Dort zählt man nicht so grob, auch nicht etwa in schlichten Dekaden, sondern in den 5er Jahresschritten zwischen den documenta-Ausstellungen seit 1977.


 Das ist einfach und übersichtlich, fein genug, um zwischen der Adenauerära und der Kohlära unterscheiden zu können und weit genug, die historischen Phasen der Zugehörigkeit des heimischen KSV Hessen Kassel zur zweithöchsten Spielklasse des deutschen Profifußballs terminieren zu können. Allerdings auch recht anspruchsvoll für denjenigen Kasseler Bürger, der, sagen wir, schon fünf oder sechs der großen Ausstellung zeitgenössischer Kunst miterlebt hat. Schwierig deshalb, weil festzuhalten ist, welche Kunstwerke welcher documenta im Stadtbild verblieben sind, welche ihre jeweils aktuellen Ausstellungen prägten und welche wann spektakulären Bekanntheitsgrad bekamen.

Die Stadt ist voll von Geschichten aus der Perspektive der Bürger, die Kunst, Künstler und Ausstellungsmacher in 57 Jahren kennen- und einzuschätzen gelernt haben. Die persönlichen Begegnungen mit den Prominenten zählen ebenfalls dazu wie die Erfahrungen als Student im Besucherdienst, der Pressestelle oder dem Cateringservice. Mo Edogas Turm der Hoffnung von 1992 etwa ist in allerbester Erinnerung, ein riesiger Stapel Strandholz auf dem Friedrichsplatz, wo täglich gebaut und diskutiert wurde, Beuys Stadtverwaldungsaktion mit 7.000 Eichen im gesamten Stadtgebiet, Ensembles von unbehauenen Basaltstelen mit Eichen, die nach anfänglichen Protesten und hitzigen Debatten von der Stadt inzwischen fraglos akzeptiert werden. Der Erdkilometer auf dem Friedrichsplatz von Walter de Maria und schließlich das Maskottchen der d9, der Man walking to the Sky, 300.000 Euro teuer und Lieblingskunstwerk der Kasseler, der dem berühmten Wahrzeichen der Stadt, dem Herkules hoch oben über der Stadt, längst den Rang als das Kasseler Wahrzeichen streitig macht. 


So war es immer. Kassel stritt sich immer und immer gern über die Ausstellungen und die Objekte, die das Stadtbild für hundert Tage prägen sollten. Im Laufe der Jahrzehnte, die vergingen, haben Kassels Bürger gelernt, professionell mit dem fünf-jährlichen Einmarsch der Kunstgladiatoren zu leben. Es gehört zum kommunikativen Standardrepertoire des Kasselers, aus seiner privaten Perspektive als Nutzer und als bleibender Faktor der Stadt zu diskutieren oder zu informieren, der auch zwischen den Ausstellungszeiten mit den künstlerischen Hinterlassenschaften leben wird.

Zu den Machern hat man ein kennerhaft-distanziertes Verhältnis, "Jan Hoet war freundlich, Catherine David schwierig", man hat viele der Macher immer wieder im Stadtbild erlebt. Man ist es gewohnt, kritische Stimmen über das Stadtbild in der überregionalen Presse zu lesen und von den eingeflogenen Kunstkennern weitgehend ignoriert und fast nur als Dienstleister wahrgenommen zu werden. In den 90er Jahren versuchte man, sich der documenta und seiner regionalwirtschaftlichen Bedeutung anzupassen und parallel Angebote zu kreieren, die den Besuchern noch mehr nutzen bieten sollten. Zu den Kasseler Erfahrungen gehört es seitdem, welche Erfolgsaussichten solchen Initiativen beschieden sind, die kleine Großstadt aus Nordhessen mit der Weltkunstausstellung in Beziehung setzen wollen. 

Inzwischen jedoch wendet sich das Blatt, weil die Kasseler in der kurzen Zeit seit der vorletzten und letzten documenta einen deutlichen Schritt in der bürgerlichen Selbstwahrnehmung gemacht haben. Als fleißige Profiteure der guten wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland haben sich die Nordhessen an den Gedanken gewöhnt, dass sie von der Mitte Deutschlands aus eine sehr günstige Entwicklung hinter sich haben und deshalb inzwischen aus dem Krähwinkel der Republik entfleucht sind. In der ehemaligen Beamtenstadt mit Schwerindustrieanschluss ist das Mix der Branchen inzwischen so günstig entwickelt, dass man besser als in früheren Zeiten die Konjunktursprünge abfedern kann. Vom Armenhaus in der Zonenrandlage hat man sich zum Mitglied des Clubs der Regionen in der deutschen Mitte gewandelt und besitzt inzwischen das gelassene Selbstbewusstsein, die Ankündigungen der Folgen des demographischen Wandels in Ruhe abzuwarten. 

Der durchschnittliche Kasseler ist in der Regel kein documenta-Gänger, der Anteil der Kasseler Bevölkerung an den zuletzt 700.000 Besuchern denkbar klein. Nur sieben Prozent machten sie aus und der Rest begreift sich selbst dennoch überwiegend als gut informierter, interessierter Beobachter. 
In dem Maße, wie sich die documenta sehr erfolgreich entwickelt hat, wenn man die Besucherzahlen betrachtet, in dem gleichen Maße hat sich der gewöhnliche Kasseler Bürger vom wertvollsten modernen Kulturgut quasi emanzipiert. Die documenta ist eine feste Größe im Kulturleben der Stadt, deshalb lässt man sich aber noch lange nicht aus dem Rhythmus bringen. Dies war eine Entwicklung, die etwa zwei documenta-Intervalle lang brauchte, um heute eine selbstbewusste, selbstbestimmte Generation Kasseler, Kasselaner, Kasseläner hervorzubringen, die mit der documenta wie selbstverständlich aufgewachsen sind.

Allein die Tatsache, sie in den eigenen Mauern als Gast empfangen und bewirten zu können, ist den Kasselern eine Bestätigung ihres Ranges und ihres Erfolges auf anderen Feldern. Die kurz aufflackernde Diskussion über ein Kunstwerk im Herzen des Ausstellungscampus in der City, das nicht von der documenta stammte, hat zu keinem Zeitpunkt die Verbindung der documenta mit ihren Bürgern in Frage gestellt. Kritische Kommentare zuhauf, ja, aber an keiner Stelle eine Fundamentalkritik, die die Ausstellung in der Stadt anzweifelte. 

Um das verstehen zu können, muss man sich klar machen, dass der Impuls von Arnold Bode aus den frühen 50 er Jahren heute seine Früchte erntet. Die documenta hat von Kassel aus längst ihre Wirkung gehabt und Kassel setzt sich gern über moderne Kunst auseinander. Die Ausstellung hat die Stadt verändert, die Ausstellung hat einen ihrer Gründungsimpulse realisiert. Die documenta allerdings selbst beweist alle fünf Jahre wieder ihre Autonomie und Stärke. Heftig diskutiert, intensiv befragt, gerne auch polemisch angegangen, aber nie gezwungen, sich einem wie auch immer verstandenen Massengeschmack oder Repräsentationszwang zu unterwerfen. Die dabei gelegentlich entstehenden Diskussionen und Debatten gehören zum geliebten und ersehnten documenta-Ritual dazu, wie das Schlange-Stehen am Ticketschalter. Die documenta ist in Kassel angekommen und von den Kasselern längst angenommen und zum unveräußerbaren Teil ihrer Stadtkultur gemacht worden. Diskussionen über eine Verlagerung der Ausstellung in eine der großen Metropolen sind Vergangenheit. Friedliche Koexistenz hätte das früher In anderen Zusammenhängen geheißen, heute ist es der Status quo zwischen Stadtgesellschaft und Ausstellung.

Beflügelt wird dieses Selbstbewusstsein nicht zuletzt durch die anderen ungeheuren Kunstschätze, die In Kassel ihre Heimat gefunden haben, seitdem ein kunstsinniger Landgraf sie für seine Sammlungen in die Stadt holte. Wer Rembrandts und Beuys, Sprachdenkmäler wie das Hildebrands Lied und die Schriften der Brüder Grimm Tag für Tag zu seinem Kulturerbe zählt, der lässt sich vom documenta-Wanderzirkus alle fünf Jahre nicht mehr aus der Ruhe bringen.  Und wenn die 100 Tage des künstlerischen Ausnahmezustandes vorüber sind, wird man in Kassel wieder Geschichten zu erzählen haben, wird wieder die dreizehnte Ausstellung mit ihren Vorgängern vergleichen und sich innerlich darauf einstellen, dass in 2017 die documenta 14 die Stadt wieder mit Beschlag belegen wird.

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