Donnerstag, März 29, 2012

Gelesen, verstanden, notiert 3

Aus dem Zusammenhang gerissen


aus: Naives Schmalspur-Programm der analogen Biederkeit von Ulf Poschardt
in DIE WELT 26.03.2012

Selten ist die Verachtung für unser Parteiensystem mit einem derart unschuldig-modernen Antlitz aufgetreten wie bei der Piratenpartei. Am Abend eines weiteren Triumphs der vergleichsweise jungen Partei stand Michael Hilberer im schwarzen Sweatshirt zwischen den anderen Spitzenkandidaten, die sich allesamt die Mühe gemacht haben, am Abend einer Volksentscheidung auch in der Wahl ihrer Garderobe dem Souverän Wähler ihre Wertschätzung zu kommunizieren.

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Es hält sich das Gerücht, dass es bei den Piraten Tiefgründiges über das aktuelle Elend der Demokratie zu verstehen gebe. Freunde, aber auch fernstehend Interessierte behandeln die Piraten wie Kinder, die man nicht hart anpacken darf, anstatt sich darüber zu empören, mit welcher Ignoranz und Schlichtheit diese Partei sich ans politische Handwerk macht.
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Vergleiche der Piraten mit den Grünen und deren langhaarigen Anfängen gehen fehl. Die einst Alternativen bedienten in den 70er-Jahren zwar auch ein frei flottierendes Protestpotenzial, aber sie hielten die feingliedrigen Mechanismen der Parteiendemokratie nie für ein mit simpelsten Begriffen auszuhebelnden Apparat. Die aggressive Naivität der Piraten und ihre betonte Ferne zum Parteiensystem werden ebenso wie das laptoppige Zerzauseln auf Parteitagen und die Krawattenferne des Personals auf der linksidealistischen Seite verortet – dabei hat das Ressentiment der Piraten gegen das politische Establishment denselben Drall wie bei der amerikanischen Tea Party.

,,, Die Ideologie des Nicht-Expertentums landet schnell bei nur gefühlten Gerechtigkeiten.

Der kindliche Glaube an die Voraussetzungslosigkeit der politischen Teilhabe und des Engagements steht im scharfen Gegensatz zur Geheimwissenschaft jener Geek-Sonderwelten, in denen übergangen wird, wer in technischen Entwicklungen nicht den Nabel unserer politischen Welt sieht. Die etablierten Parteien reagieren mit komischem Respekt auf die Piraten. Sie sollten sie besser ernst nehmen. Und wegen ihrer Inhaltsleere attackieren.

Denn als Protestpartei erzählen die Piraten kaum mehr über unsere Gegenwart als jene Binse, dass das Hier und Jetzt ziemlich unübersichtlich und anstrengend ist. Nichts Neues also, gab es doch in der Moderne stets die Sehnsucht, auf komplexe Herausforderungen wie Euro-Krisen und Klimawandel mit reduktionistischen Begriffen zu opponieren. Die Piraten mögen es sich einfach machen, der Rest der Parteien hat dazu keine Chance. Sie wissen, dass mehr von ihnen erwartet wird.



aus: "Mir steht es bis hier!" Sven Regeners Wutrede in Tagesspiegel 24.03.2012

"Wir machen keine Verträge mit Plattenfirmen, weil wir doof sind, sondern weil wir sonst unsere Musik nicht machen können. (...) Es wird so getan, als wenn wir Kunst machen würden als exzentrisches Hobby. Das Rumgetrampel darauf, dass wir irgendwie uncool seien, weil wir darauf beharren, dass wir diese Werte geschaffen haben, ist im Grunde genommen nichts anderes, als dass man uns ins Gesicht pinkelt und sagt: euer Kram ist eigentlich nichts wert. Die Gesellschaft, die so mit ihren Künstlern umgeht, ist nichts wert.
Sven Regeners Beitrag im O-Ton

Das einzig wahre am Rock ’n’ Roll ist, dass wir jede Mark, die wir bekommen, selber verdienen. (...) Alles andere ist Subventionstheater. Alles andere ist Straßenmusik. Aber ich möchte kein Straßenmusiker sein. Das ist eine Frage des Respekts oder des Anstands. (...) Das Problem ist, dass gerade wenn man Indie-Rocker ist, so wie wir, das Letzte was man gebrauchen kann, ist, uncool dazustehen. Also halten alle schön die Schnauze und schauen zu, wie die Sache den Bach runtergeht. Aber zu glauben, irgendwann käme das Sozialamt um die Ecke und würde die Bezahlung der Künstler übernehmen und dabei würde noch gescheiter Rock ’n’ Roll herauskommen, das kann man knicken.




aus: Gegen das Getue um Bio-Enten von Janina Fleischer
in Freitag 27.03.2012
Holger Witzel karikiert in seinen Kolumnen Ost-West-Gegensätze bis zur Kenntlichkeit. Nun sind die „Pöbeleien aus einem besetzten Land“ in einem Buch gesammelt. Könnte Ärger geben
Am Anfang stand ein Wutanfall. „Am 20. Jahrestag des Mauerfalls lief das Fass der Tränen über“ und dem Journalisten die Galle: „Ob in China ein Sack Reis umfällt oder auf halbem Weg dahin eine Mauer – na und?“ Niemand zwischen Nord- und Tegernsee hatte Interesse an einem wirklich neuen, gemeinsamen Land. Es ist das Scheinheilige, Vorgemachte, Nachgeplapperte, das Witzel auf die Palme bringt. Das Getue um handgerupfte Bio-Enten und verhaltensauffällige Kinder. Ignoranz und anschwellende Selbstgerechtigkeit bei höchstmöglicher Unkenntnis. Keine Ahnung, aber unbedingt eine Meinung.

Es gehört nicht viel dazu, davon genervt zu sein, aber einiges, die Sache auf den Punkt zu bringen. Als die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beitrat, dachten viele, „sie müssten nur Hammer, Zirkel und Ährenkranz aus ihrer Fahne schneiden und könnten danach weiter als Schmied, Ingenieur oder Bauer arbeiten“. Dabei waren nun auch sie nur als Konsumenten vorgesehen. Nicht die Umstände trennen bis heute, sondern der Umgang damit. Wer es gewohnt ist, hinter die Kulissen zu schauen, zu hinterfragen, wird das weiter tun. Wenn auch nicht immer mit Getöse.

http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&sqi=2&ved=0CGEQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.freitag.de%2F1212-gegen-das-getue-um-bio-enten&ei=ZGd0T4-QBoTY4QSk56SuDg&usg=AFQjCNGPYBXR7Xf_acX6RUII56wlF5_JZg&sig2=3SJ4zfFh_kui79CbfsFsbw



aus: Die Angst vor dem Volk im Netz von Sascha Lobo
in S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine 27.03.2012

Denn die Rezepte der traditionellen Politik greifen nicht mehr richtig, sie hält sich an immer kleineren Erfolgen fest - und doch traut sie sich nicht, ihr Politikmodell und ihr Machtverständnis zu überprüfen. Der Bürger des 21. Jahrhunderts aber möchte einfach nicht mehr bis zur nächsten Wahl warten, um etwas zu ändern, das offensichtlich schief läuft, von Acta über Bahnhof bis Finanzkrise. Und das Internet kommt ihm als Instrument dabei gerade recht. Dass die Piraten nicht nur von Netznerds gewählt werden, liegt daran, dass die entscheidende Veränderung in den Köpfen passiert - und das Netz ist der Überbringer der Botschaft. Weil das Internet aber auch zum Symbol für diese politische Haltung geworden ist, ist der Begriff Digitale Demokratie gerechtfertigt. Digitale Demokratie ist transparente Politik zum Mitklicken. Die Piratenpartei verkörpert diese Entwicklung, deshalb fällt es trotz aller Unzulänglichkeiten und Wirrnisse auch so schwer, sie zu hassen, wenn man nicht Sven Regener ist.

Mit den Piraten hat sich der politische Diskurs zwischen den Wahlen, jahrelang ein eher belächeltes Pflänzchen in der Parteiendemokratie, mit digitaler Macht verselbständigt. Die Demokratie verwandelt sich mit dem Netz langsam in eine digitale Dauerdemokratie. Dieser Prozess ist nicht ohne Schwierigkeiten und Gefahren, denn am Ende sollte die repräsentative Demokratie transformiert werden, aber erhalten bleiben. Vor allem aber liegen Chancen in dieser nächsten Stufe, in der digitalen Demokratie. Denn die Masse ist auch vernetzt keinesfalls das Allheilmittel, aber ganz sicher nicht so verachtenswert wie Le Bon sie dargestellte. Dessen Zitate aus dem 19. Jahrhundert lesen sich übrigens - wenn man "Massen" durch "die Leute im Internet" ersetzt - wie heutige Bemerkungen netzverängstigter Politiker: "[die Leute im Internet] sind vor allem durch einen schrankenlosen Egoismus charakterisiert, der Zerfall und geistig unfruchtbare Pöbelherrschaft mit sich bringt." Nur als Vorlage für den nächsten Wahlabend, falls wieder jemand das Verlangen spürt, die Piraten zu beschimpfen.



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