Sprache gibt nicht nur die Realität falsch wider -
es gibt gar keine Realität, die man widergeben kann.
Jean Baudrillard
einestages - Geschichte von innen
In den Regalen stehen sie millionenfach, Fotoalben, die ihre Besitzer in kurzen Hosen, mit Zahnlücken oder Konfirmationsanzug oder anderen Accessoires der jeweiligen biographischen Epoche zeigen. Unterm Kopfkissen finden sich dann die Tagebücher, hitzig geschriebene Beschreibungen des alltäglichen Einerleis, das den Menschen zum Erwachsenen macht. In Briefen, gut verstaut in unzähligen Schuhkartons, finden sich die Nachrichten von irgendwo an irgend wen, der dem Schreiber gerade wichtig war. Fotos, Tagebücher, Briefe - längst als Träger von Geschichten aus und über die Geschichte entdeckt. Persönlichkeiten der Zeitgeschichte haben sie hinterlassen und die Wissenschaft betrachtet es als ihre Aufgabe, aus ihnen zusätzliche Informationen zu destillieren, die historischen Ereignissen erst ihre Tiefenschärfe verleiht.
"Im Moment bin ich mehr verwirrt." O-Ton Joachim Gauck am 19.2.2012
"Frau Bundeskanzlerin, meine Damen und Herren, die Sie mich nominiert haben. Das ist natürlich für mich ein besonderer Tag, wie es in meinem Leben manche besondere Tage gegeben hat. Und am meisten bewegt es mich, dass ein Mensch, der noch geboren ist in diesem finsteren, dunklen Krieg und der 50 Jahre in der Diktatur aufgewachsen ist, und hier seine Arbeiten getan hat, nach der Wiedervereinigung, die Sie dankenswerterweise erwähnt haben, dass ein solcher Mensch jetzt an die Spitze des Staates gerufen wird.
Es
ist geschehen, was viele Experten schon lange als unausweichlich
bezeichnet hatten, der Bundespräsident Wulff müsse zurücktreten. Es ist geschehen und es zeigt sich, dass der
Rücktritt keineswegs eine befreiende Wirkung hat, sondern nur
wiederum offenlegt, wie wenig souverän die verantwortlichen Damen
und Herren mit der Situation umzugehen verstehen. Wulff, kaum 48
Stunden aus dem Amt, schrumpft innerhalb von Nanosekunden zu einer
publizistischen Fußnote. Allenfalls das Ergebnis der
staatsanwaltlichen Ermittlungen wird noch einmal für Aufsehen, für
ein geringes öffentliches Aufsehen, sorgen. Schon als die Meldung
vom Antrag der Hannoveraner Staatsanwälte auf Aufhebung der
Immunität über die Bildschirme geisterte, wies man eifrig darauf
hin, dass 80 bis 90 Prozent - so genau wollte man es dann doch nicht
wissen - der aufgenommenen Ermittlungen ergebnislos eingestellt
wurden. Wulff hat diese Erkenntnis nicht mehr geholfen, er wird nun
die Ermittlungen über sich ergehen lassen und feststellen, dass
Vorwürfe, die eben noch, während seiner Amtszeit inkriminiert
wurden, als belanglose Petitessen abgetan werden und auf den hinteren
Plätzen der Meldungsspalten landen.
Und
nun, nachdem er gegangen ist, wird man auch zugeben können, dass die
Fehler des Niedersachsen nicht das Zeug für eine veritable
Staatsaffäre hatten und haben. Statt dessen gilt es nunmehr, die
Strecke der Verlierer zu sichten, Gewinner und Profiteure auszumachen
und sich nach neuen Highlights umzusehen. Wulff ist weg und es
scheint, als habe sein Abgang schlussendlich mehr Bedeutung für die
politische und gesellschaftlich führende Kaste als für den
Durchschnittsbundesbürger. Es muss in den letzten Wochen einer Menge
von Angehörigen der Parteien und Parlamente zigfach eiskalt über
den Rücken gelaufen sein, als ihnen klar wurde, wie dünn das Eis
ist, auf dem sie über die öffentliche Bühne schliddern. Kleinere
und kleinste Verfehlungen werden unter dem Brennglas der öffentlichen
Aufmerksamkeit plötzlich wichtig und von angeblich öffentlichem
Interesse. Manch einer mag sich gefragt haben, ob ein unbezahltes
Knöllchen, ein großzügiges Geschenk oder die Ex-Freundin ihm noch
gefährlich werden könnten. In vielen Gesprächsrunden, in denen die
Causa Wulff diskutiert wurde, hallte der schiere Schrecken nach, der
sich verbreitet hatte, nachdem es wieder einen aus der höchsten
Riege der politischen Verantwortungsträger herauskatapultiert hatte.
Offenbar wurde schlagartig, dass keine Deckung wasserdicht, kein
Versteck unauffindbar und kein Gerücht wirksam zu stoppen ist. Die
Illusion, angesichts der eigenen Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit
vor solchen Anwürfen geschützt zu sein, zerstob knallartig und
verbreitete kurzfristig Angst und Schrecken. Welche Kontakte zu den
Medien sind noch was wert? Was ist von dem Bonmot des Springer-Chefs
Döpfner zu halten, der gesagt hatte, wer mit der Bild-Zeitung nach
oben komme, der gehe mit ihr auch wieder (r)unter? Eine Drohung, eine
Klarstellung?
Wie
kann denn in Zukunft noch ein vertrauensvoller Kontakt aufgebaut und
gepflegt werden, wenn die Regeln, nach denen das Spiel gespielt wird,
so volatil und leicht zu verändern sind? Wer sich die Mühe
oder den Spaß gemacht hat, möglichst viel über die Angelegenheit
zu lesen und dabei auch diejenigen Stimmen zur Kenntnis zu nehmen,
die nicht zu den meinungsführenden Publikationen gehören, der
konnte feststellen, dass außerhalb der Festung Berlin-Mitte schon
mal eher der gesunde Menschenverstand die Oberhand behielt und dass
oftmals eine eigenartige Haltung des staunenden Beobachters
wahrzunehmen war, der nicht glauben mochte, was sich da vor seinen
Augen abspielte. Journalisten, die oft und gerne mit ihrem
Nicht-Wissen kokettieren und gerade daraus die Selbstverpflichtung
zum unerbittlichen Nachbohren und -suchen ableiten, stellten
plötzlich fest, dass Politiker Menschen sind, Menschen, die
möglicherweise verführbar sind und möglicherweise auch unüberlegt
handeln. Journalisten, die extrem darauf aus sind, sich bestens zu
vernetzen und Kontakte in Alle Himmelsrichtungen zu haben, diese
Journalisten ließen zu, dass auf diese Beziehungen und ihre Pflege
der Schatten des pauschalen Verdachts fiel. Und eben diese
Journalisten lassen gerade indessen Moment ihre Beziehungen spielen,
um möglichst nahe an den Entscheidungsprozess hinter verschlossenen
Türen zu kommen, wenn es darum geht, den Nachfolger zu küren. Und
es funktioniert, wie man allenthalben lesen kann. Die Quellen
sprudeln, die Informationen werden ausgetauscht, bald schon werden
Dossiers in Redaktionen vorliegen, die dort nicht hingehören, werden
Detailinformationen aus vertraulichen Gesprächen veröffentlicht,
die so nie an die Öffentlichkeit sollten. Dass auf der Methode
dieser Informationsbeschaffung der Hauch der moralischen
Fragwürdigkeit liegen könnte, ist als Argument in der
(ver-)öffentlichen Diskussion nicht zugelassen. Durchstechereien und
Indiskretionen sind Scoops, sind Erfolge, die man sich wie Skalps an
den Gürtel hängt und die das Ansehen in der Meute sichern.
Frank Schirrmacher spricht aus, was zur Ursachenforschung beiträgt
Manch
einem mag jedoch der Gedanke durch den Kopf gegangen sein, wie
unsicher und gefährdet die eigene Stellung im politischen und
gesellschaftlichen Gefüge tatsächlich ist, wenn man diese Stellung
als Wahlamt oder per Ernennung erhalten hat. Die eben schon einmal
angesprochenen Gesprächsrunden im TV vereinen regelmäßig
Angehörige dieser privilegierten Stände, die über ein Mitglied
urteilen sollten oder wollten, das offensichtlich gegen den Kodex
verstoßen hatte, der da lautet "übertrieb' es niemals!"
in diesem Licht nämlich wurde über normale Abläufe gesprochen,
wurde erklärt, wer welche Quellen besitzt, um an Güter des
täglichen Bedarfs zu kommen, wer welche Kontakte hat, um in den
Genuss bestimmter Erholungs- und Reisevorzüge zu kommen. Und am
Rande wurden sogar die Journalistenrabatte thematisiert.
Man
hat dabei sogar erstmals zugelassen, dass über die sozialen und
gesellschaftlichen Implikationen der Vorwürfe gegen Wulff gesprochen
wurde. Wulff, der Aufsteiger, der angepasste Underdog, der
beifallssüchtige Loner, der aus Furcht vor dem Abstieg Fehler über
Fehler machte. Wer auch immer diese Diskussionsführung begonnen hat,
der hat in der Sache zutreffend, aber in der Zielrichtung obskur,
zugelassen, dass die gesellschaftliche Errungenschaft der sozialen
Durchlässigkeit, der Chancengleichheit und der Förderung nach
Leistung, nicht nach Geburt und Abstammung, in Zweifel gezogen wurde.
Dabei hat ein anderes Beispiel uns trefflich vor Augen geführt, dass
der Abkömmling weiland höherer Stände keineswegs moralisch
gefestigter handeln muss.
Stattdessen
hat die deutsche Aufsteigergesellschaft einen der ihren dafür
bestraft, gegen die Regeln der Diskretion und Obacht verstoßen zu
haben, die an die Stelle der vormals gültigen Gottgewolltheit
bestimmter Zustände getreten ist. Kevin Costner hat in seiner
Trauerrede für Whitney Houston darauf angespielt, dass es zum Fluch
des Ruhms werden kann, sich ständig der Frage stellen zu müssen, ob
man denn noch immer gut genug sei, um den Ruhm zu verdienen. In
Deutschland hat man die Frage anders gestellt: Ist man verschwiegen
und clever genug, um noch zum Club dazu gehören zu dürfen? In den
Talkshows wurde dieses Dilemma offenbar, als man sich nicht auf
gültige moralische Standards einigen konnte, die anzulegen seien. Es
war offenbar nicht möglich, Bezug auf einen allgemeingültigen Kodex
zu nehmen, der unbestritten wäre. Statt dessen wurden
formalrechtliche Argumente ebenso benutzt und missbraucht wie
nassforsche Unbekümmertheit. Grundgesetz und Strafgesetzbuch plus
Richtlinien und Handlungsvorschriften sind offenbar weder sakrosankt
noch bekannt, so dass sich ein jeder erst einmal ausprobieren kann,
bis er gesagt bekommt, dass er die Grenze des Erlaubten überschritten
hat. Klar, dass in diesem Zwielicht gut über Verfehlungen und Schuld
zu streiten ist.
Insofern
kann man die Causa Wulff und ihre mediale Behandlung als
Selbstgespräch der meinungsführenden Gruppen verstehen, ein
interner Klärungsprozess, bei dem man über die Klubmitgliedschaft
eines einzelnen stritt und sich dabei von Millionen zuschauen ließ,
die nicht dazu gehören. Die Frage, ob für die Zugehörigkeit zu
diesem Klub tatsächlich ein objektiv belegbarer Leistungsnachweis
notwendig ist, stellte sich dabei nicht.
Und
so besteht die Gefahr, dass die Regelung der Wulff-Nachfolge nur dazu
dient, die Mechanismen der Gesellschaft, so wie wir sie um uns herum
haben, nur zu bestätigen und zu stärken.
Ob Wulff bis heute gescheitert ist, weil er Fehler gemacht hat, weil
er sich etwas zuschulden hat kommen lassen, oder weil er unsere
gültigen moralischen Standards verletzt und zu lange gezögert hat,
sich dazu zu bekennen, bleibt völlig offen und wird auch nicht bei
der Staatsanwaltschaft Hannover oder den zuständigen Gerichten
geklärt werden. Es würde einer öffentlichen Debatte bedürfen, um
diese Frage zu klären. Einer Debatte mit Beteiligung aller
gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen. Das Amt des Bundespräsidenten
könnte, wenn es denn tatsächlich Schaden genommen hat, ein weiteres
mal beschädigt werden. Dann nämlich, wenn der Nachfolger einfach
zur Tagesordnung übergeht. Der König ist tot, lebt der König?
Make
love, not war. Hippie-Weisheit Oh
yeah? Try paying the fucking rent with it. Keith Richards
Die
heute über 50jährigen gehören zur Generation, die das Sagen
übernommen hat. Die übliche kurzzeitige Regentschaft einer
Altersgruppe, die bald schon wieder von der kommenden Generation
abgelöst werden wird. Das ist keine neue Erkenntnis, nur eine
Einsicht, wenn man feststellt, Teil dieser Altersgruppe zu sein,
Erfahrungen und Einsichten zu teilen, Zugehörigkeit und Gewissheiten
entwickelt zu haben, die schon wieder nach einem nur kurzen
Intermezzo im Lichte der macht von nicht unbedingt neuen, aber
wenigstens anderen Erfahrungen und Einsichten abgelöst werden . Man
stellt es fest und geht zur Tagesordnung über, denn es ist noch
genug an Arbeit zu erledigen, Entscheidungen zu treffen und Dingen zu
regeln.
Bei Tische
aber liest sich dies gelegentlich anders, wenn der gesellschaftliche
Rahmen, das nette Gespräch, das gute Essen, die entspannte
Atmosphäre es zulässt, sich über so etwas wie Werte, Erziehung,
Maßstäbe zu unterhalten.
Dabei werden oft und gerne Geschichten erzählt, die einander ähneln,
Wegmarken werden benannt, die viele teilen, Episoden der jüngeren
Geschichte werden dafür verantwortlich gemacht,dass dies Denken
und Werden diese oder jene Wendung genommen hat. Die Gesellschaft
beginnt dann gelegentlich in diesen gemeinsamen Erinnerungen zu
schwelgen, die Frage taucht auf, durften Sie schon 1972 Willy Brandt
wählen? Waren sie als Brockdorf gestürmt wurde? Waren sie im Bonner
Hofgarten dabei? Waren Sie im RCDS oder in der Juso-HSG? Wackersdorf?
U2 in Berlin? Der 9. November 1989?
Und schon bekommt man ein Gespür
dafür, wie sich quasi eine innere Ausdifferenzierung ergeben hat,
schon als die Ereignisse stattfanden, als der Sog der Erlebnisse noch
seinen ganz speziellen Zauber entfaltete und die von ihm erfassten
Menschen in die ihnen je eigenen Richtungen zu ziehen begann. Von
diesen Markierungen im kollektiven Gedächtnis ziehen sich dann
individuelle Entwicklungen, die belegen, wie völlig inkompatibel die
Schlussfolgerungen aus den Erlebnissen miteinander gewesen sein
können, obwohl sie auch 30 Jahre später noch beharrlich mit einem
einzigen gemeinsamen Ursprung verbunden werden. Dabei scheint dieser
gemeinsame Ursprung lediglich so etwas wie ein
Durchgangsbeschleuniger gewesen zu sein, ein Initiaionsritus
vielleicht, ein Ausdruck gemeinsamer Interessen oder Vorlieben, nicht
mehr, nicht weniger. So haltbar sind diese Bande, dass auf ewig der
Streit zwischen Beatles- und Rolling Stones-Fans weitergeht und sich
an der Struktur der Gesellschaft, ihren Äusserungsformen, ihrem
Verteilungs- und ihrem Gerechtigkeitsproblem jedoch nichts geändert
hat.
Manche
Kommentare in den Medien beginnen immer verzagter und verhaltener zu
klingen, dabei aber auch, zumindest gelegentlich, immer deutlicher
und klarer. Angesichts der Komplexität der Welt und ihrer Probleme,
die sich weder in einem Anti-Kriegs-Slogan noch in einem
3-Minuten-Protestsong lösen lassen, kann man diesseits der 50 schon
einmal melancholisch und zornig werden.
Dies vor allem, wenn man die
Anfänge mit dem zwischenzeitlichen Ergebnis, dem aktuellen Zustand
der Welt, vergleicht. Trotz der Warnungen des Club of Rome 1972 waren
wir optimistisch, zur rechten Zeit die richtigen Antworten auf die Fragen der Zeit geben zu können. Und tatsächlich, es fanden
sich jede Menge Antworten von jeder Menge unverbrauchter Talente, teils brillant formuliert, allein, es fehlte immer wieder an den
notwendigen Mehrheiten oder den günstigen Umständen.
Der Sturm der
Begeisterung um die Obama-Wahl 2008 gab ein letztes Mal noch einen
Hauch von der Begeisterung frei, die Jahrzehnte zuvor die Woodstock
Generation auf den Weg gebracht hatte. Und keine vier Jahre später
steht der Mann, der, sich den realen Gegebenheiten beugend, für eine
weitere große Enttäuschung gesorgt hat, wieder zur Wahl an. Und in
Ermangelung eines besseren Entwurfs und in Erinnerung an den Kater
vom letzten Mal schauen wir teilnahmslos zu, wie die Dinge sich in
den USA entwickeln. Auf unserer Seite standen etwa Gerhard Schröder oder
Joschka Fischer am Ende ihrer Laufbahn nicht mehr als Umwälzer und
Veränderer da, sondern als Verwalter der realen Machtverhältnisse
und zuguter letzt Profiteure der eigenen Karriereplanung. Und es
gehört mittlerweile zum abgeklärten Ton der Generation 50plus dazu,
sich darüber nicht mehr aufzuregen. Dazu hat man selbst nur
zu intensiv die Erfahrung gemacht, wie schwer es mitunter sein kann,
die fucking rent zu zahlen und seine Träume verwirklichen zu wollen.
Stoff für Songs, Filme oder Feuilletons bietet es dennoch
allemal. Die
Ernüchterung der Woodstock-Generation geht einher mit der Einsicht,
dass die Geschichte keine Versuchsanordnung für Erstsemester und
keine Selbsterfahrungsgruppe für ambitionierte Aufsteiger ist. Rudi
Dutschke hatte in einem Fernsehinterview die Behauptung aufgestellt,
wir seien nicht die nützlichen Idioten der Geschichte. Am Ende sind
wir uns da allerdings nicht mehr ganz so sicher:
Die Atomkraft-nein-danke-Idee
hat Fukushima nicht verhindern können,
alle Europa-Sonntagsrhetorik
hat den Eurocrash nicht vermeiden helfen können.
Die
Friedensbewegung sieht sich heute mit verlorenen und vergeblichen
Kriegen in Afghanistan und Irak gegenüber.
Die liberalen
Bürgerrechtsideen der 70er Jahre flankieren heute Mehr oder minder
hilflos die Oligopolisierung des Internets.
Das wiedervereinigte
Deutschland kämpft mit Rechtsradikalismus und
Verteilungsstreitigkeiten.
Die Zeit für die nun herrschende
Alterskohorte, die Probleme innerhalb ihrer Amtszeit zu lösen, wird
knapp. Und die Hoffnung, dass dies überhaupt ein realistisches
Projekt sein könnte, schwindet immer mehr. Es sei denn, man gehört
der nächsten oder übernächsten Generation an, die an die
Schaltzentralen drängt, um ihre Vorstellungen zu realisieren und die
altersweisen Vorgänger aufs Altenteil zu schicken.
Es
wird höchste Zeit, dass man sich mit dem Zustand der Zeit näher
befasst und die Ursachen unserer Probleme einmal unabhängig vom
bisher Wünschbaren untersucht. Wenn wir nicht wie Faust in unserer
Studierstube an unserem Wissensreichtum einerseits und dessen
Effektlosigkeit andererseits verzweifeln wollen, müssen wir
vorbehaltlos auf die Suche nach den Fehlern im System gehen, ohne
dabei die Verhältnisse wieder einmal vom Kopf auf die Füße stellen
zu wollen. Allein der Streit darüber, was Kopf und was Füße denn
sind, würde diesen Prozess unendlich aufhalten und am Ende
stoppen.
Dieser
Prozess, gemeint als Abrechnung einerseits und als Bewegung
andererseits, konnte seinen Anfang mit der Erkenntnis nehmen, dass
wir keine endgültigen Lösungen finden müssen, sondern optimale,
dass wir den Blick nach vorn mit einem Blick zurück und um uns herum
verbinden müssen, kurz: Dass wir nicht das Ende der Geschichte sind,
sondern nur ihre Fortsetzung als Zwischenstation in eine ungewisse
Richtung. In weiten Teilen der Welt ist der materielle Fortschritt
dem ethisch-moralischen weit voraus, in anderen Teilen der Welt stellt
sich diese Frage noch überhaupt nicht. Noch immer nicht.
Diese
Generation könnte anders als die vorhergehende über solche Fragen
nachdenken und entscheiden ohne die Hypothek eines weltumspannenden
Vernichtungskrieges, wenngleich mit der weiter bestehenden Sorge
wegen der weltumspannenden Konfliktfelder. Kann man aus der
Geschichte lernen? Sicher, vor allem wie grandios große Ideen
scheitern können und wie niederträchtig der Mensch seinen
Mitmenschen behandeln kann. Die Geschichte endet nicht, sie wechselt
ihre Richtung, Geschichte springt nicht, sie führt unterschiedliche
Phänomene zusammen und konfrontiert uns mit ihren Konsequenzen. Die
Geschichte bietet aber die großzügige Gelegenheit, aus ihr zu
lernen, wenn man bereit ist, nicht den Fehler zu machen, sie
wiederholen oder nachträglich ändern zu wollen.
Was
dürfen wir also hoffen? Dürfen wir hoffen? Wäre es nicht völlig
unhistorisch und eher tragisch gedacht, wenn wir alle Hoffnung fahren
lassen würden? Hoffnung allein auf das Fortbestehen des Status quo
und das Vermeiden der ultimativen Katastrophe, woraus auch immer die
bestehen mag, wäre ein bescheidener Ansatz, um Utopien, in deren
Namen wieder Zwang und Konflikt gesellschaftsfähig würden, zu
meiden. Halten wir doch einfach die Widersprüche der Wirklichkeit
aus, schaffen die utopielose Utopie, richten uns in der
hoffnungslosen Hoffnung ein - vielleicht ist das eine Art von
Vermächtnis unserer Generation an die nachfolgenden.
Lenken
wir also bei Tisch das Gespräch künftig auf dieses Thema, stiften
wir die neue Gemeinsamkeit und nehmen den alten Spruch, dass wir die
Welt nur von unseren Kindern geliehen hätten, ernster als noch
zuletzt....
27. Januar 2012: "Old Ideas" erscheint Der Rock'n'Roll wird alt. Diese Erkenntnis ist nicht neu, okay. Aber an kaum einem Beispiel lässt es sich aktuell so eindeutig zeigen wie an Leonard Cohen, 77. Gut, ein Rocker war der Kanadier nie, aber er trat zu einer Zeit auf die Bildfläche der Pop- und Rockmusik als ihre große kurze Phase zwischen 1967 und 1972 einsetzte. Seitdem ist er, unterbrochen von langen Pausen, mehr oder weniger in der Rockgemeinde präsent.
Hymnische Verehrung
Er hat sich all die Jahre die Achtung, den Respekt und die geradezu hymnische Verehrung seiner Fans erworben. Wenn man seine Reputation in Musiker Kreisen an den Namen bemisst, die ihn gecovert haben, dann reicht die Liste von His Bobness Dylan und Johnny Cash über Bono und Joe Cocker bis zu Don Henley und John Bon Jovi. Heute, wenige Tage vor dem Erscheinungstermin seines neuen Soloalbums Old Ideas, dem ersten Originalalbum seit sechs oder acht Jahren, häufen sich die zustimmenden, begeisterten Rezensionen. Cohen ist seit seinem Comeback vor etwa fünf Jahren von einer Welle der Begeisterung und Zuneigung getragen, seine drei Jahre dauernde World Tour war komplett auf drei Kontinenten ausverkauft, seine Live-DVD fand hunderttausendfachen Absatz. Wohin man also heute schaut nur Begeisterung, Zustimmung und Vorfreude auf die Neuerscheinung.
Das war auch schon einmal anders und eigentlich ist es eine der wundersamsten Entwicklungen im Pop und Rockbusiness, beziehungsweise in der Fachpresse, dass ein Künstler vom Alter und Hintergrund eines Leonard Cohen so unisono Lob und Verehrung findet. Vor vielen Jahren, Anfang der 70er Jahre, hatte seine damalige Plattenfirma in einer Presseveroffentlichung getextet, dass diese Musik jene sei, die man höre, bevor man sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufschnitte. Von diesem wohl gemeinten sprachlichen Missgriff erholte Cohen sich lange zeit gar nicht zu Zeiten als der Streit zwischen Rock und Pop, später Rock/Punk und Disco, dann Grunge, House, Hip Hop etc. Etc. tobte, gerieten alle Singer / Songwriter der Flower Power Ära ins abseits und galten bald als Ewig-Gestrige der Musikgeschichte der Gegenwart.
Während aber Donovan, Cat Stevens, Simon and Garfunkel, Gordon Lightfoot und all die anderen ihren Erfolg weitgehend einbüßten und in Vergessenheit gerieten, blieb Cohen ständig aktiv, ohne allerdings eine Liefergeschwindigkeit wie etwa die Rolling Stones zu erreichen. Cohen machte ebenfalls schwere Krisen durch und verlor Mitte der 80er Jahre gar seinen Plattenvertrag. Als Künstler blieb er dennoch, zumindest in Deutschland, präsent. Er geriet nicht in Vergessenheit, auch wenn er sich lange Pausen gönnte, in denen man außerhalb der USA nichts mehr von ihm hörte. Er behielt seinen Status als Sänger der anderen Art von Songs, der intellektuellen Texte, des Pops mit künstlerischem Tiefgang. Und als er sich schließlich in Deutschland und der Welt mit seinem Album Various Positions und darauf mit Hallelujah wieder zurück meldete, wurde er mit offenen Armen empfangen, wenn auch noch nicht so uneingeschränkt positiv wie zwanzig Jahre später, als er seine Zeit als buddhistischer Mönch beendete, nicht zuletzt um sein verlorenes Vermögen wieder aufzubauen, um das ihn eine untreue Managerin gebracht hatte. Resultat dieses Comebacks: siehe oben.
Vermisst: Stimmen der Kritik Angesichts der vielen zugetanen Stimmen, der begeisterten Kritiken und der grenzenlosen Verehrung, die er heute also genießt, vermisst man fast schon kritische Stimmen, eine ausgewogene Diskussion der künstlerischen Leistungen und Hervorbringungen, eine voranbringende, erhellende Debatte pro und contra. Selbst einem eingefleischten Fan und Verehrer wie dem Schreiber dieser Zeilen fällt die Lektüre der immer gleichen Lebensbeschreibungen und Inhaltsangaben, der ausführlichen Setlists und Auftrittsdaten extrem schwer und erzeugt ein gerüttelt Maß an Überdruss und Langeweile. Cohen war einer der ersten Künstler, die ihre Fans dabei unterstützten, im Internet zum Beispiel umfangreiche Informationsplattformen anzulegen. Heute ist Cohen, mehr noch als Bob Dylan scheint mir, einer der meist dokumentierten und begleiteten Künstler der modernen Musikgeschichte. Alan Showalter, der sich als DrHGuy seine Verdienste erworben hat, und Jarkko Arjatsalo, Schöpfer der ersten Cohen-Website The Leonard Cohen Files, sind die treibenden Kräfte hinter dieser Arbeit. Es gibt vollständige Listen der im Netz erhältlichen Videos und Texte, es gibt Listen der Coverversionen und Bootlegs, sogar eine Konkordanz ist online. Für Cohen -Interessierte und -Forscher ein schier unendlich reichhaltige Fundgrube an Quellen und Informationen.
Und doch bleibt bei all dem der Eindruck zurück, dass Cohen es auf diese Weise meisterhaft verstanden haben könnte, sich selbst hinter all dem unsichtbar werden zu lassen. Was all dem zu fehlen scheint, das ist gewissermaßen seine Gegenwart auf den Seiten im Internet. Man könnte vermuten, dass Cohen dem Problem seines Freundes Dylan entgehen wollte und entgangen ist, als Prophet, Messias und Seher verehrt und missverstanden zu werden. Dylan ist in dieser Rolle eine der tragischen Figuren der zeitgenössischen Musikgeschichte und eine der am häufigsten missverstandenen obendrein. Cohen, ein völlig anderer Typ von Herkunft und Bildung her, war zeitweise sicher auch in Gefahr, das Schicksal Dylans zu teilen. Mag sein, dass er in der Kooperation ein geeignetes Mittel fand, der liebevollen totalen Vereinnahmung durch seine Verehrer zu entgehen.
Was es also bräuchte, wäre eine kritische Auseinandersetzung mit Cohens Werk, immerhin eines bemerkenswerten Teils der Popkultur und eines bedeutenden Phänomens der Massenkultur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Cohen ist ohne Frage, neben Dylan, der literarische Musiker, der seine Herkunft aus der Literatur nicht verleugnen kann, und will, der die Maßstäbe an Gehalt, Technik und Komplexität nicht aufgeben will, die er aus der Literatur mitgebracht hat. Hier gälte es den Quellen und Ursprüngen nachzugehen, der Art und Weise, wie er es geschafft hat, diese Einflüsse der klassischen englischen und amerikanischen Lyrik etwa in die Popkultur hinüber zu führen, ohne damit eine Sperre aufzubauen. Wie reagierte er denn auch auf die Zeitgeschichte? Als er mit seiner musikalischen Karriere begann, war er 1967 schon 33 Jahre und in Kanada ein arrivierter Literat. Als Elvis die Bühne betrat, studierte der Unternehmersohn aus Montreal gerade und veröffentlichte seine erste Gedichtsammlung 1956, als die Beatles übernahmen lebte er auf einer griechischen Insel und führte ein Hippieleben lange bevor es die Hippies gab. Als Bob Dylan the times they are a-changing sang, war er völlig ahnungslos und nahm all das gar nicht zur Kenntnis. Als die Woodstock Nation aufbrach, 1969, kämpfte er schon mit sich, den Drogen und dem Alkohol um seinen verstand, nachdem er 1967 fast über Nacht bekannt geworden war. Es ist den Filmdokumenten jener Zeit anzusehen, wie fremd er sich in der verrückten Welt der Rockmusiker gefühlt haben muss. Eine Welt, die vordergründig gegen den bourgeoisen Herrschaftsanspruch revoltierte. Eine bourgeoise Welt, die bisher seine gewesen war, auch wenn er sie in der Spielart des Bohemiens zu erobern getrachtet hatte.
Von Cohen sind aus dieser Zeit keine Stellungnahmen zum Vietnamkrieg, der Bürgerrechtsbewegung, der Hippiekultur, Israel und so weiter bekannt. Fehlen sie wirklich? Cohen hat sich zu keiner Phase seines öffentlichen Lebens als politischer Kommentator aufgespielt oder angeboten, in seinen Texten gibt es immer wieder Bezüge auf historische oder politische Themen, aber sie taugen nie als politisches Statement oder Bekenntnis. Cohen und die Zeitgeschichte sind kein Miteinander eingegangen. Wie auch, die Popkultur ist in ihrem Kern nicht politisch gewesen, sie war aber immer ein Phänomen für politische Interpretationen. Und vor diesem Hintergrund lässt sich Cohens politische Enthaltsamkeit deuten und nachvollziehen. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich die Popkultur auf ihren wesentlichen kreativen Kern konzentriert und sich gern gefallen lassen, als Ausdruck des Protests und des revolutionären Aufbruchs politisch festlegen zu lassen. Es hat beiden Seiten über all die Jahre genutzt und war doch eines Tages, spätestens als der Punk an sein Ende gekommen war, vorbei. Cohen aber behauptete sich als Kontrapunkt zur Rebellion auf der Strasse. Er bot eine Innerlichkeit, die sich selbst genug war, die die Anti-These zum Protest war, die den sozialen Protest um seinen humanen Kern bereicherte. Seine Helden waren keine Siegertypen, die Partisanen, Nancy, Marianne, Isaac, Suzanne und und und. Sie waren Archetypen, die aus den aktuellen Kämpfen hätten kommen können, geschlagene, geläuterte, geschundene Seelen, die gar nicht in den Kategorien eines kämpferischen Aufbruchs dachten. Und diese Spiegelung verlieh dem Protest eine Tiefenschärfe, ohne die er inhuman und sinnlos gewesen wäre. Cohen, der naive Sänger und Songschreiber, hatte einen Nerv getroffen.
Godfather of Doom, Grand Master of Melancholia Es könnte Aufgabe der Wissenschaft sein, sich dieses Verhältnisses Cohens zur Zeitgeschichte anzunehmen und vor diesem Hintergrund seine Wirkung zum Beispiel in Deutschland nachzuvollziehen. Die gängige Musikkritik verdient in der Regel ihren Namen als Kritik nicht, ist lediglich die schreibende Begleitung der Moden und Bewegungen. Dies stört nicht, solange man sich auf den Fanstandpunkt zurückzieht und sich damit zufrieden gibt. Im Falle Leonard Cohens wäre es wichtig zu erfahren, wie sich das schaffen des unpolitischen Poeten in die leben so vieler Menschen eingebrannt hat. Viele Menschen um die 55 oder 60 erinnern sich liebevoll an diese lange Strecke des Wegs, den sie mit Leonard Cohen gegangen sind. Dabei ist sein Werk keineswegs leicht konsumierbar, die üblichen Kurzformeln vom Godfather of Doom, Grand Master of Melancholia oder Poet of the Heart sind die üblichen Verkürzungen und Vereinfachungen, die ein Phänomen in den Griff nehmen sollen, das sich von Anfang an eigentlich dieser Vereinnahmung entziehen wollte. Die akribische Arbeit des Allan Showalter und Jarkko Arjatsalo geben in vielen biografischen Einzelheiten Auskunft über seine Quellen der dichterischen Inspiration und die Ursprünge der Bilder und Menschen in seinen Texten.
Auf diese Weise erschließt sich Stück für Stück das Universum des Singer / Songwriters Leonard Cohen, doch wenn man einen Raum dieses Universums betreten hat, ist er leer, der Mann selbst hat ihn langst verlassen und sich neuen Räumen zugewandt. Er hat einmal in einem Interview gesagt, er sei mit der Fähigkeit der Amnesie begabt, er könne sich kaum an die vielen Stationen seines Lebens erinnern. So gelang es ihm, sich elegant und freundlich lächelnd der liebevollen Inquisition der Interviewerin zu entziehen. Cohen hat ein fast hermetisch verschlossenes Werk der Popkultur geschaffen, das von ihm geschickt verteidigt wurde und wird gegen alle Deutungs- und Vereinnahmungsversuche. Wieder vergleichbar mit Dylan, der sich mit derselben Energie der Deutung seiner Fans entzieht, indem er sich ständig neu erfindet.
Wenn nun also endlich wieder ein neues Album mit neuen Songs erscheint, wird sich der Zug der Bewunderer und Verehrer -hoffentlich, wahrscheinlich - wieder in Bewegung setzen, die alten Lobgesänge hervorholen und aus ihnen zitieren. Am Ende wird das lächelnde Rätsel Cohen zurückbleiben, der Sänger mit den nachsingbaren Melodien, dem unverkennbaren Bariton, dem gewinnenden Lächeln und dem selbstironischen Humor. Vielleicht entdeckt ja auch ein junger Literatur- oder Musikwissenschaftler sein Interesse an dieser bereits 45 Jahre andauernden Karriere und legt eines Tages ein analytisches Werk vor, in dem einige Rätsel gelöst wurden. Es wäre dem Werk zu gönnen und dem Autor zu wünschen. Und der Rock'n'Roll könnte noch einmal beweisen, dass er noch lang nicht zum alten Eisen gehört, auch wenn einer seiner Stars noch älter als die Rolling Stones ist.
Going Home by Leonard Cohen January 23, 2012 I love to speak with Leonard He’s a sportsman and a shepherd He’s a lazy bastard Living in a suit
But he does say what I tell him Even though it isn’t welcome He will never have the freedom To refuse
He will speak these words of wisdom Like a sage, a man of vision Though he knows he’s really nothing But the brief elaboration of a tube
Going home Without my sorrow Going home Sometime tomorrow To where it’s better Than before
Going home Without my burden Going home Behind the curtain Going home Without the costume That I wore
He wants to write a love song An anthem of forgiving A manual for living with defeat
A cry above the suffering A sacrifice recovering But that isn’t what I want him to complete
I want to make him certain That he doesn’t have a burden That he doesn’t need a vision
That he only has permission To do my instant bidding That is to SAY what I have told him To repeat
Going home Without my sorrow Going home Sometime tomorrow Going home To where it’s better Than before
Going home Without my burden Going home Behind the curtain Going home Without the costume That I wore
I love to speak with Leonard He’s a sportsman and a shepherd He’s a lazy bastard Living in a suit
Donnerstag, Januar 12, 2012
Demokratische Melancholie - Wulff, Presse und wir
Nun, da aus der Götterdämmerung des Bundespräsidenten mehr und mehr die Spötterdämmerung seiner Kritiker wird, solange er an seinem Amt festhält und das angekündigte Jahr des Vergessens vergehen lassen will, nun also ist es wohl an der Zeit kurz inne zu halten und sich die Frage zu stellen, was eigentlich in den vergangenen Wochen rund um die Affäre geschehen ist.
Der zähe Kampf einiger Medien um die Aufklärung der wahren Abläufe hinter der Kreditaufnahme des Bundespräsidenten und sein erbitterter Verteidigungskampf mit seinen Anwälten dagegen hat mit all seinen unprofessionellen und dilettantischen Nebeneffekten einen Blick auf die üblichen Routineabläufe auf höchster Ebene werfen lassen. Dem staunenden Volk öffnete sich für einen Moment der Vorhang und es wurden wie in einem Blitzlicht bei Nacht die handelnden Personen sichtbar, wie sie ihren üblichen Geschäften nachgehen wollten und es am Ende nicht recht konnten, weil einer die Regeln verletzt hatte. Wie und wann er das möglicherweise getan hat, bleibt wohl bis auf Weiteres im Dunkel der Zeitgeschichte verborgen. Bekannt ist nur das Resultat.
Egal, auf welche Seite sich der Beobachter am Ende auch stellen möchte, er wurde selbst in dieser Angelegenheit alllein als Staffage benutzt, der man wesentliche Informationen uber Motive, Beziehungen und Handlungen vorenthielt. Auffällig ist doch im Verlauf der Affäre, dass beide Seiten sich immer wieder mit dem Hinweis auf denselben Wähler wahlweise auch Bürger für ihre Vorgehensweisen und Entscheidungen rechtfertigten. Verwies eine Redaktion auf das Aufklärungsbedürfnis der Bevölkerung plädierten Wulff und seine politischen Freunde für die Rückkehr zum wichtigen Geschäft des Regierens, weil die Menschen doch andere Probleme hätten. Dabei wollte die eine Gruppe eben diesem Bürger lediglich Gründe für die eigene Vortrefflichkeit und Abonnementstauglichkeit bieten und die andere sich im Amt halten. Völlig unterschiedliche Motive im einzelnen, einzig das Argument, das Amt dürfe nicht beschädigt werden, teilte man sich schiedlich. Stattdessen hantierte man mit den Begriffen der Wahrhaftigkeit, des Anstands, der Glaubwürdigkeit und so weiter und so weiter. Ist eigentlich niemandem aufgefallen, dass sich kein einziges Offizialorgan der Rechtsprechung für die Angelegenheit zu interessieren schien? Ganz offensichtlich lag der Kern der Affäre außerhalb ihrer Zuständigkeit, so dass sich selbst berufene Ermittler und Rechercheure auf den Weg machen konnten.
So liegt also scheinbar die Verantwortung für die Verteidigung der Staatsräson, für die Einhaltung der Versprechen in den Amtseiden, die Oberaufsicht über die moralische Verfassung des Staates und seiner Vertreter bei den Medien, die nun ihrerseits völlig undemokratisch-unlegitimiert Kampagnen fahren, die das Grundgesetz zwar im Kleingedruckten zitieren, aber mehr den Regeln des Berufskodex verpflichtet sind. Deshalb ist die Lektüre der inzwischen fast zahllosen Interviews und Kommentare zum Thema so lehrreich. Als Quintessenz kommt dabei heraus, dass die Öffentlichkeit zu akzeptieren habe, dass der Journalist einzig den Maßgaben seines Berufsstandes verpflichtet ist und dass es so etwas wie eine moralisch-ethische Diskutierbarkeit journalistischer Standards gar nicht gibt. Zur Überraschung vieler wird aber dann oft angedeutet, dass es ja zum guten Ton der Deals genannten Abmachungen zwischen Redaktionen und Personen des öffentlichen Lebens gehört, mit Informationen und Geschichten sehr wählerisch umzugehen. Geschichten, die dem Voyeurismus des Publikums entgegen kommen könnten, werden nicht veröffentlicht, auch weil sie erkennbar nur einen begrenzten Wirkungsbereich hätten, so sie erschienen. Erst wenn eine gewisse Grenze überschritten ist, die der Fallhöhe der Person geschuldet ist, erst dann erhält die Geschichte den Vorrang und wird veröffentlicht. Dabei ist immer der Einzelfall entscheidend, allgemeingültige Standards lassen sich daraus nicht ableiten. Schlimm ist daran vor allem, dass dieser Mangel sich auch auf die Lokalebene fortsetzt, in kleinerem Umfang die Regeln journalistischen Handwerks aufweichen und ständig verschieben. Dabei hat die grenzenlose Freiheit des Internets natürlich seine Auswirkungen, ist aber nicht die einzige Ursache. Dieses Problem ist in der Wurzel älter als das Internet.
Wulff muss sich vorwerfen lassen, diesen Zusammenhang offenbar in keiner Phase seines beruflichen Wirkens verstanden zu haben. Ursache dafür könnte die Verwechslung des erreichten zeitlich begrenzten Amtes und seiner notwendigen Privilegien mit der scheinbaren Unantastbarkeit einer repräsentativen Funktion in der Gesellschaft sein. Wer ein Amt unter anderem anstrebt, um diesen Status der Unangreifbarkeit zu erreichen, der ist nicht nur falsch am Platz, sondern auch einem fundamentalen Missverständnis demokratischer Verhältnisse erlegen. Mag sein, dass vor diesem Hintergrund das dilettantische Verhalten des Bundespräsidenten erklärbar und nachvollziehbar wird. Andere haben es ja vor ihm schon vorgemacht, wie falsch man zum Beispiel mit der Salami-Taktik liegen kann. Verwunderlich, dass diese vielen schlechten Beispiele nichts an Verhaltensänderung gebracht haben. Das zweite Missverständnis ist offenbar die mangelnde Einsicht in die Qualität und Grundlage des Deals mit dem Medium oder den Medien. Beim Roulette gilt die Regel "Die Bank gewinnt immer", im Zusammenspiel mit der Presse gilt dies auch, die Presse gewinnt immer, weil sie sich, ohne es auszusprechen, im Stillen eine Ausstiegsklausel offen hält. Und diese Klausel beinhaltet, dass der Partner innerhalb eines begrenzten Rahmens Bewegungsspielraum und Narrenfreiheit besitzt. Erst wenn er dies falsch versteht oder sich nicht mehr an die vorgegebene Regeln hält, wird er über Nacht mit den Konsequenzen konfrontiert. Die Presse ist ein Tiger, von dem man nicht absteigen kann, wenn man versucht hat, ihn zu reiten. Deshalb tut ein jeder gut daran, auf seiner Seite zu bleiben und nicht der Versuchung zu verfallen, sich mit der Presse gemein zu machen. Politiker sollten dies per se beherzigen, Wirtschaftsleute haben in der Regel ohnehin eine gehörige Portion Skepsis, Menschen aus dem Showbusiness können anders verfahren, für sie gelten unter Umständen andere Regeln im Pressekontakt.
Und nun also, im milden Licht der Götterdämmerung in Berlin betrachten wir Bürger das sich leerende Schlachtfeld und wundern uns darüber, wie schnell die Karawane nach der Schlacht weiterzieht und nun andere Themen bevorzugt. Es kann den erwartungsvoll gestimmten mündigen Bürger schon einmal melancholisch stimmen, wenn er auf die leise im Wind raschelnden Papierstapel, bedruckt mit schrillen Neuigkeiten und krachenden Dementis, mit brillanten Analysen und weit hergeholten Argumenten, sieht und dem Geräusch der abziehenden Karawane nachlauscht. Vorsicht vor den Medienleuten, Skepsis vor den Kandidaten für öffentliche Ämter - das ist die Folgerung aus diesen turbulenten Tagen. Es wird wieder solche Tage geben, wieder werden Ungereimtheiten entdeckt im öffentlichen Handeln und wieder werden Informationen über Deals und Absprachen durchsickern, von denen sich die arme Bürgerseele nichts träumen ließ. Er wird zum Zeugen eines Schauspiels gemacht, er wird als Beobachter eines Vorgangs genötigt, ohne dass es einen Anhörungstermin gäbe oder Mitwirkungsmöglichkeiten bereitgestellt würden. Mag sein, dass Wulff zurücktreten muss und zurücktreten wird, mag sein, dass die Bild-Zeitung künftig zum Blatt der Sitten und Moden für die gebildeten Stände wird, mag sein, der Wahlbürger, der brave Demokrat im Schlafrock, hat darauf keinen Einfluss, Straßenumfragen und demoskopische Erhebungen simulieren demokratische Einflussmöglichkeiten, am eigentlichen Schauspiel aber nimmt er nicht wirklich teil. Es geht nicht darum, jeden Bürger zum Chefredakteur h.c. zu machen oder täglich repräsentative Abstimmungen durchführen zu lassen, es ginge darum, auf derselben demokratischen Wertebasis zu handeln, die für den Bürger gilt, erkennbar die gleichen Maßstäbe fürs eigene verantwortliche Handeln anzulegen. Dann wäre etwas gewonnen. So aber behält Ferdinand von Schirach recht, wenn er sagt, Wulff vermittle den Eindruck, kein Vorbild, sondern das Abbild des Volkes sein zu wollen. Nur dass dieses Argument auch vice versa für die Presse gilt. Wenn die moralischen Maßstäbe nicht mehr stimmen und diese Ergebnisse zeitigen, dann ist es Zeit für die Götterdämmerung. 12.1.2012