Sonntag, Mai 06, 2012

Was man weiß, was man wissen sollte


Bildung, Bildungskanon und Quizsendungen
"Hier steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor."

Nürnberger Trichter
Als Dietrich Schwanitz vor mehr als zehn Jahren seinen eigenen Bildungskanon vorlegte und ihn mit allerhand spöttischen und melancholischen Kommentaren versah, lag es auf der Hand, dass die Bildungsgemeinde und ihre Fans leichtes Spiel haben wurden, den Versuch kritisch abzuwerten und seine Funktionalität in Abrede zu stellen. Mag die Frage nach den Inhalten des Kanons, seiner Auswahl und vor allem nach dem, was in ihm nicht berücksichtigt wurde, völlig berechtigt sein, so bleiben vor dem Hintergrund aktueller Erfahrungen im Lande seine spöttischen und sarkastischen Bemerkungen zur Bildung als soziales Renommierinstrument in guter Erinnerung. Und behalten ihre Gültigkeit.


Wirkung in die Gesellschaft

Mehr noch: Sie drängen sich wieder hervor, wenn man mit ansehen muss, was die Bildungseliten im Land mit den akademischen Bildungsweihen anzustellen verstehen. Ob diese Vorkommnisse - aberkannte Doktorenwürden, politische Rücktritte, öffentliche Debatten - nun am Ende verheerende oder weniger schädliche Auswirkungen auf die akademischen Spitzen, ihre Rituale und Qualitätsstandards haben werden, sei mal dahingestellt. Interessanter ist meines Erachtens, wie die Wirkung in die Gesellschaft hinein sein könnte, welche Beispielwirkung davon ausgeht und welchen Stellenwert Bildung und Bildungsabschlüsse, vor allem die höheren und höchsten, denn noch wirklich haben. 

Faust - Nacht (Will Quadflieg)



Das Internet und Wikipedia haben schon längst ihre Wirkungen auf Schüler und Studenten gehabt. Die Methode copy and Paste ist keine Erfindung der Netzgeneration, sie hat sie lediglich von den Altvorderen übernommen und digital vervollkommnet. auffällig ist nur die Selbstverständlichkeit und auch Einigkeit, mit der Bildungsinhalte nicht mehr als etwas gesehen werden, das mit großer Energie angeeignet und erarbeitet werden muss, sondern das mit sportlich-lockerer Attitüde das Prinzip von Versuch und Irrtum seiner Perfektion entgegen führt. Und dies geschieht gerade zu einer zeit, in der einmal mehr die Segnungen globaler Bildung als Voraussetzung zur Bewältigung unserer Zukunftsprobleme herausgestrichen wird. Angst und Bange kann einem werden, wenn man den Gedanken an sich heran lässt, dass die wissenschaftlichen Experten der Zukunft nur unzureichend auf ihre Aufgabe vorbereitet sein könnten. Und ebenso furchterregend wirkt es festzustellen, dass der Bildungskanon als einigendes Wissenscodex der Bildungsschichten nicht mehr wirkt. Bildung firmiert heute unter dem Markennamen Allgemeinwissen als Voraussetzung dafür, Quizsendungen zu bestreiten oder Preisausschreiben zu gewinnen. Und damit hat es fast schon den Stellenwert des Lotto-Spielens erreicht, nur dass dazu mehr Disziplin und Zuverlässigkeit aufgebracht werden muss, um die Gewinnchance zu sichern. 

In manchen Wissensgebieten, vor allem den naturwissenschaftlich-technischen, kann der Nachwuchs sich hinter seinem Spezialistentum verstecken und sich dem überkommenen Bildungsanspruch entziehen, in den Geistes- und Sozialwissenschaften gehört der Mut zur Lücke zum moralischen Rüstzeug hinzu. Klagen von Hochschullehrern darüber sind immer leiser geworden. Zu der Zeit, als Schwanitz seinen Kanon vorlegte, kurz vor der Jahrtausendwende, hörte man solche Klagen häufiger. Inzwischen scheint man sich arrangiert zu haben. Die alte Formel der Lernfaulen, man müsse doch vor allem wissen, wo etwas stehe, nicht was da stehe, bevor man aufgefordert würde, es sich anzueignen, ist heute sicheres Allgemeingut. Der Hinweis auf Wikipedia ist völlig ausreichend und jedem plausibel zu machen. 

Wikipedia schafft das Denken ab

Wikipedia schafft nicht das Wissen ab, sondern das Denken. Eigenartigerweise genau dadurch, dass in klassischer Manier Informationsgebirge aufgetürmt werden, ohne dass eine Vermittlung der Handhabung geleistet wurde. Genauso standen früher einmal der Brockhaus oder Meyers Enzyklopädie in Opas Bücherschrank. Imposant, aber ungelesen. Die verbesserte Zugänglichkeit von Informationen haben nicht zu einer verbesserten Informationsverarbeitung geführt. Und ein Plagiat wird hier eindeutig als angemessene Verarbeitungsform ausgeschlossen. Interessanterweise hat sich im vor-politischen Raum die Diskussion um geistige Urheberschaft und ihre Bedeutung von der Frage der Bildung und Wissensproduktion entkoppelt. Auch das zu einer Zeit, in der Wissen als Exzellenzdisziplin und geistige Führerschaft immer wieder herausgestrichen wird. 

Es scheint so zu sein, als verlöre der Bildungsgedanke um so mehr an Substanz, je mehr er gesellschaftlich gefordert und erforderlich wird. Das mag auch daran liegen, dass Bildung und Studium nicht mehr auf die intellektuelle Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung abgestellt werden, sondern mehr und mehr auf den Zugang zu ökonomisch-sozialen Gruppen. Wo der Besitz eines Zeugnisses wichtiger wird, als das, was es bezeugen soll, kann das Ergebnis im Durchschnitt nur weniger als befriedigend ausfallen. Seltsam, dass in all den Bildungsdiskussionen mehr und mehr der quantitative Aspekt der Bildungspolitik betont wird, nicht der qualitative. Es scheint, als säge sich die Gesellschaft den dünnen Bildungsast noch selbst ab, auf dem sie sitzt. Was ist das, das die Gesellschaft daran hindert, sich die Bildung als mehr vorzustellen als ein Gesellschaftsspiel, als eine Sammlung beliebiger Versatzstücke, die am besten noch per App auf's Smartphone zu laden sein könnten.

"Wie war noch 'mal die Frage?"

Erschiene Dietrich Schwanitz Buch von 1999 erst heute wäre es womöglich eine willkommene Erinnerung an alte Zeiten, in denen das Wissen noch etwas geholfen hat. Heute würde die Diskussion wohl weit vor der Auswahl von kanonischen Inhalten einsetzen und vielleicht schon weit vor ihnen enden. Was ist Bildung heute tatsächlich noch? Was ist Bildung im digitalen Zeitalter? Welche Rolle kann Bildung noch als kulturelle Sinnstiftung für die Gesellschaft, nicht für die Society spielen? Waren wir gestern noch weit von der Antwort entfernt, suchen wir inzwischen noch intensiver nach der Erinnerung an die Frage.

Die Bildung ist tot. Es lebe die Bildung. Dietrich Schwanitz

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