Samstag, Mai 12, 2012

Schreiben im freien Fall


Wie sich die ZEIT-Redaktion einmal völlig im Sprachdschungel verlief und der Wolf sie auf dem Holzweg heimführte


Foto: Pixelio/G. Altmann
Dicht daneben, ist bekanntlich auch vorbei. So geschehen im Dossier der ZEIT, in der es um die Gegenwart und Zukunft der gesprochenen und geschriebenen deutschen Sprache geht. So weit, so gewichtig. Ein spannendes, notwendiges, wichtiges, umfassendes, nie enden wollendes Thema, keine Frage. Und es wäre ebenso spannend wie notwendig gewesen, darüber nachzudenken, wie angesichts der sich wandelnden Sprache und ihrer Ausdrucksmittel, den neuen Kommunikationskanälen und dem Stand der aktuellen Bildungsdiskussion dieser Frage näher auf den Grund zu gehen wäre. Was dann aber geliefert wird, ist die seit über dreißig Jahren bekannte Stilfibel aus der Hand von Wolf Schneider, selbst ernannter Sprachexperte und seit Anfang der 80er Jahre als Gründungs-Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg mitverantwortlich für das Dilemma, über das wir alle gerne geneigt sind, gemeinsam zu klagen: Der Verfall der deutschen Sprache. 


Oder besser: Dem Verfall der Verwendung der deutschen Sprache. Schneider lebt von dem Zustand, den er seit 1976 auch als Buchautor eifrig bekämpft, (hoffentlich) ganz gut, vor allem weil sich de ZEIT-Redaktion tatsächlich traut, die 25 Seiten Sprachschule mit einer Anzeige des Unternehmers Wolf Schneider zu ergänzen. Bemisst allerdings den Preis von 1980 Euro plus 19 % Mehrwertsteuer für ein zweitägiges Seminar am Preis für eine ZEIT-Ausgabe, dann ist diese Sonderveröffentlichung ein echtes Schnäppchen.

Der Artikel vom 9.5.2012

Foto: Pixelio/A. Damm
Was mag der Anlass für diese Stilkunde gewesen sein? Der Tag der deutschen Sprache? 150 Jahre Konrad Duden? 30 Jahre Henri-Nannen-Kaderschmiede? Was auch immer das ausschlaggebende Motiv gewesen sein mag, der Nachdruck eines historischen Dokumentes zur Sprach- und Schreibkultur wäre sicher sehr viel frischer und überzeugender daher gekommen, als diese altbackene Stilkunde samt Beispielgalerie der Sprachmeister von Heine bis Kafka. Das zwischen Sprachentwicklung und Sprachverwendung, zwischen Sprechen und Schreiben einfach nicht unterschieden wird, dass journalistisches Handwerk im 21. Jahrhundert sich an literarischen Standards des 19. und 20. Jahrhunderts messen lassen soll – egal, wird nicht weiter reflektiert. Dass die Klagen über den Mangel an Sprach- und/oder Schreibkompetenz vor fast 40 Jahren schon genauso klangen wie heute, kann nicht verwundern, ist doch der Hauptautor derselbe. 40 Jahre sind vergangen, eine Journalistenschule gegründet, Preise im Jahresturnus vergeben worden und was ist die Quintessenz? Alles zurück auf Anfang, es hat sich nichts verändert.

Journalisten - Verächter allen Schulmeistertums

Journalisten, die ewigen Kritikaster gesellschaftlicher Prozesse, Haarspalter und Spaßverderber, Verächter allen Schulmeistertums, werden auf faszinierende Art wieder zu Klippschülern von der ersten Bank, wenn es darum geht, Regeln, Vorschriften und Standards der Schriftsprache einzuhalten. Das Ergebnis dieser deformation professionelle ist oft ein verquastes Durcheinander der Stile und Formen, wenn versucht werden soll, die Anforderungen an die Kürze eines Nachrichtentextes mit den Wünschen nach sprachlicher Prägnanz zusammenzubringen. Oder besser gesagt: das war einmal so. Heute findet sich vielmehr die zunehmende Tendenz, sich eben dieser Regeln zu entledigen und zu schreiben, wie man spricht. Das dient zum einen dem Bemühen um Authentizität, zum anderen der eigenen Bequemlichkeit. Unter Zeitdruck hervorgebrachte Berichte über Stadtratssitzungen vermischen dann schon mal die Stile, Fakten und Meinung, Zitat und Wortspiel. Diese Produktionsbedingungen bleiben in einer Stilfibel natürlich unberücksichtigt, natürlich. Interessant wäre gewesen zu erfahren, wie Standards geformt werden können, wie sie eingehalten werden und weiterentwickelt.

Über die aktuellen Entwicklungen der Sprache kurz zu räsonieren, ihre Neuentwicklungen zu nennen und dann zur sprachlichen Tagesordnung von 1905 (oder wann auch immer) zurückzukehren, als wäre dies alles nicht wichtig, ist ein starkes, ignorantes Stück. Für den Journalisten, gleich ob Lokaljournalist oder Edelfeder beim Meinungsführer, ist der Blick wichtig, die Analyse, die Begabung, sich nicht hinters Licht führen zu lassen und Widersprüche zu empfinden, bevor man sie auf den Begriff gebracht hat. Oder kurz gesagt: Aus einem dummen Kopf kommt kein kluger Satz. Das sollte schon bei der Auswahl des Nachwuchses berücksichtigt werden. Klar ist, dass ein kluger Kopf gebildet und ausgebildet werden kann. Ein Kopf, der nur zur mechanischen Wiedergabe von Informationssplittern taugt, ist nicht bildbar, da hilft auch die Goethe- oder Nietzsche-Lektüre nichts.

Letztlich dient die Kanonisierung literarischer Qualitätsstandards möglicherweise auch nur zur Begründung subjektiver Vorlieben oder dem Kaschieren bestimmter Wissens- und Fertigkeitslücken. Oder was ist, wenn ein Volontär sich ein Beispiel an Arno Schmidt oder James Joyce nimmt? Darf er das? Ist Literatur gleich Literatur? Oder wie bekomme ich den literarischen Gestaltungsanspruch mit dem journalistischen überein? Darf ich, kritischer Journalist, der ich bin, die Kriterien, nach denen die mir empfohlenen Vorbilder ausgesucht wurden, kritisch hinterfragen? Darf ich fragen, ob modernster Sprachgebrauch, auch dort, wo er ins Argot oder ins Rottwelsch dreht, anwendbar ist, um der Darstellung zu dienen? Darf ich darüber nachdenken, welche positiven sprachlichen Leistungen eventuell im Twitter- oder SMS-Deutsch stecken könnten, ohne dass ich meine Artikel damit schreibe? Oder anders gefragt: Wie souverän darf der Schreibverwender über sein Arbeitsmittel Sprache verfügen und wie sklavisch muss er sich an das Regelwerk der Schneiderschen Journalistenschule halten? Dumm, wenn man für die Beantwortung solcher Fragen 1980 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer ausgegeben hätte und nichts dabei herausgekommen wäre.

Freier Fall wohl inklusive

So, wie die stets bemühten Kollegen der ZEIT ihre Stilfibel angelegt haben, müssen sie Antworten schuldig bleiben. Und sie bleiben wesentliche Impulse für die Ausbildung ihrer Nachwuchskräfte schuldig. Vereinzelte Könner verstellen den Blick auf das Heer von Text- und Informationsarbeitern, die in tausenden von Redaktionen von einem Thema zum anderen gejagt werden und denen suggeriert wird, es reiche das Mikro oder die Kamera, ersatzweise auch einen Block, auf die Wirklichkeit zu richten, um sie verstehen und berichtsfertig machen zu können. Nicht umsonst bezeichnet man im Jargon das Anfertigen von Berichten auch als „abwerfen“. Freier Fall wohl inklusive. "Die Sprache ist eine Waffe" haben die Redakteure ihr Werk kühn, aber unzutreffend betitelt. Dumm nur, wenn der Schuß nach hinten losgeht.



1 Kommentar:

Carla Riem hat gesagt…

Die Sprachseminare, auf die die Anzeige hinweist, werden von der Firma Bringmann Management Entwicklung organisiert, Wolf Schneider ist lediglich der Dozent. Die e-mail-Adressen unterscheiden sich – technischer Fehler – leider nur durch ein "e" am Ende
von ...seminar... Also bitte kein Futterneid!