Sonntag, Mai 06, 2012

Gelesen, verstanden, notiert 9


Aus dem Zusammenhang gerissen

Aus: ÖKONOMIE Einstürzende Altbauten von Uwe Jean Heuser

In DIE ZEIT, 19.4.2012 Nr. 17



… Hier der Wirtschaftswissenschaftler, dort die Wirklichkeit: Zeitlebens regte sich Galbraith über Kollegen auf, die so taten, als funktioniere die Welt wie der Markt für Kühlschränke in geordneten Bahnen und brauche keine Regeln. Sie ignorierten Finanzblasen, weil sie in ihren Modellen nicht vorkamen, oder wollten nicht wahrhaben, dass es in der Marktwirtschaft nicht bloß um Konkurrenz, sondern auch um Macht und Ohnmacht der Konzerne und des Staates geht. ...

Das Besondere im Jahr fünf der Finanzkrise: Die Kritik kommt aus dem Herzen des Establishments. Früher argumentierte der Schweizer Chef des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts oft marktliberal, heute schwört Thomas Straubhaar öffentlich den alten Weisheiten ab und verlangt, dass die Ökonomen eng mit Historikern, Psychologen oder Umweltforschern zusammenarbeiten. Auch der amerikanische Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft hat genug von der alten Theorie. Dennis Snower will jetzt in einem großen Projekt erforschen, was Menschen wirklich motiviert – und mit den Ergebnissen die wirtschaftliche Entwicklung besser erklären.
… Und doch ließen die Reformatoren nie locker. Lange vor der Krise erklärten Spitzenforscher das Auf und Ab der Finanzmärkte mithilfe von ansteckenden Emotionen wie Euphorie und Angst, und ihr Vorreiter, Robert Shiller aus Yale, war einer der wenigen, der die Krise wirklich kommen sah. Auch die selbst ernannten »libertären Paternalisten« um Richard Thaler aus Chicago fanden viel Gehör. Ihre Botschaft: Menschen sind mitunter nicht gut darin, ihr eigenes Interesse zu verfolgen, da kann der Staat mit psychologisch ausgeklügelten Signalen den Weg weisen und dafür sorgen, dass sie beispielsweise mehr Geld fürs Alter zurücklegen oder sich richtig versichern.
… Doch eines ist wahr: Krisen sind der Turbo in der Weiterentwicklung des ökonomischen Denkens. Manchmal ist es auch nur ein Moment. So verweigerte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Frühling 2009 seine Konjunkturprognose, weil die Wirklichkeit Kapriolen schlug, die das Modell einfach nicht vorsah. Ehrlich war das schon, aber was ist eine Wissenschaft wert, die ausgerechnet dann nichts erklären kann, wenn es besonders spannend wird?
Jetzt kommt also alles zusammen, was die Reformation braucht: der Zweifel, das Geld, die Thesen. Die Aufgabe hat George Soros so schön benannt. Die Ökonomen müssten »den Wandel selbst erforschen«, sagte der Geldgeber. Bisher haben sie den Zustand der Wirtschaft weitaus besser erklärt als deren Veränderung, die sich oftmals selbst beschleunigt. Genau da kommt der Mensch ins Spiel, der mal gierig nach Geld strebt und mal für Gerechtigkeit einsteht – der ganz normale Mensch, der nicht alle Eventualitäten wie ein Computer vorherberechnet, sondern sich von der Euphorie anderer anstecken lässt oder sie selbst entfacht.
… Jetzt zählt es also für die Ökonomen. Gefahren lauern an jeder Ecke. Im Elfenbeinturm, aber auch außen. Da warten Gegner, die der alten Ideologie gleich eine neue entgegensetzen wollen. Mehr Ethik, so fordern sie – und meinen mehr Umverteilung. Weniger Ökonomismus, sagen sie – und hoffen darauf, dass ihre eigene Disziplin wieder mehr gehört wird. Egal, von welcher politischen Seite sie kommen, solche Kritiker verwehren der Ökonomie die so wichtige Phase des Suchens.

Aus Ritual der Woche "Wogegen willst du manifestierön?" von Maxi Leinkauf
in Der Freitag 30.04.2012  

Warum gehen junge Leute am 1. Mai Steine werfen? Und warum lassen sie es irgendwann sein? Eine Erinnerung

… Am Abend vor dem 1. Mai rief er an. „Wollen wir morgen ins Café, schön frühstücken?“ Frühstücken? Ein schlechter  Scherz, dachte ich. …. „Du kannst am 1. Mai seelenruhig in einem Café herumsitzen?“, sagte ich. „Was machst Du denn? Steine werfen?“ Es sollte ironisch klingen. Was sollte ich antworten? Ja?
Er würde mich nicht verstehen.  Ich spürte, uns trennten Welten. 
...Als die ersten Walpurgisfeuer flackerten, zeigte uns ein Freund, in welchem Hof er Steine versteckt hatte, für die Demo am nächsten Tag. Die Steine passten in unsere Jackentaschen. Ich hatte die Räumung der Mainzer Straße 1990 miterlebt. Ich wollte gewappnet sein. Womöglich wollte ich auch Eva beeindrucken, mit der ich damals in einer WG wohnte. Sie kam aus Schweden, studierte Biologie und las Charles Dickens. Sie fand diese Stimmung im Ostberlin nach der Wende seltsam aufgeladenen. „Alle sind hier so verrückt“, sagte sie.  „Und wogegen willst du manifestierön?“ Ich überlegte. Erzählte ihr was von den „Bullen“, von gewaltsamen Übergriffen (die kannte ich ja aus dem Fernsehen, von Krawallen in Kreuzberg). Anstatt auf die dekadente Love-Parade gehe ich eben lieber für was Sinnvolles auf die Straße, sagte ich. Eva nickte stumm.
Eva und ich gehörten zusammen, aber wir wollten nirgends dazugehören. Keine organisierte Gruppe bilden, so wie die alten Kämpfer in Westberlin. Wir sahen uns als Individualisten, fern politischer Programme, wir fühlten nur eine innere Abwehr. Das Land veränderte sich so schnell, es wechselte seine Richtung. Nur wir fanden unsere nicht. Oder wollten sie nicht finden.


Das ist mehr als zehn Jahre her. Eva und ich wohnen längst nicht mehr zusammen, aber sie schwärmt manchmal noch von dieser „Anarkie“ im wilden Osten. Sie fehlt mir auch. Aber irgendwann schienen mir die Möglichkeiten der neuen Welt größer als der Verlust der alten. Ich träumte vom Studium in Paris, von Praktika bei guten Zeitungen. Auf einmal gab es einen Plan. Ich wollte ankommen, meinen Platz in der Gesellschaft finden, nicht draußen sein. Also fing ich an, mich anzupassen.
Vor ein paar Tagen rief mich ein Typ an. Ob wir nicht am 1. Mai rausfahren könnten. Aufs Land. Und später gemütlich irgendwo Kaffee trinken gehen. Ich zögerte. Schöne Idee, sagte ich dann. 


Aus Früher konnten wir nur träumen“ Wie verändern die Kinder des Internets die Politik? Oberpiratin Marina Weisband im Gespräch mit Jakob Augstein
in Freitag-Salon | 27.04.2012
Jakob Augstein: Frau Weisband, macht Politik Spaß?
Marina Weisband: Ja, riesigen Spaß. Wenn man sie nicht klassisch betreibt.
Wie meinen Sie das?
Politik hieß bisher, einen Anzug zu tragen, in ein Parlament zu gehen und einen Antrag zur Geschäftsordnung zu stellen. Oder in einer Talkshow darüber zu schimpfen, wie die anderen Parteien versagen. Deshalb hatte ich früher auch kein Interesse, daran teilzunehmen. Erst später habe ich verstanden, dass jeder ein Politiker ist, wenn er versucht, die Frage zu beantworten: Wie mache ich möglichst viele Menschen möglichst glücklich? Wir steuern gerade in die Informationsgesellschaft. Das stellt uns vor einen Haufen Probleme, weil wir aus einer Gesellschaft kommen, in der die Arbeitskraft die Hauptressource ist. Jetzt aber rückt das Wissen in den Mittelpunkt – und wir haben noch keine Ahnung, was Gerechtigkeit dann genau bedeutet. Die Piraten haben begonnen, diese Frage zu beantworten. Politik ist allerdings auch höllisch anstrengend.
Sie haben einmal gesagt, Sie seien ein Kind des Internets. War das nur ein Spruch?
Oh nein. Ich bin Migrantin, ich stamme aus einer Sowjetrepublik, die es nicht mehr gibt. Wo ich herkomme, aus der Ukraine, spricht man heute eine Sprache, die ich nicht verstehe. In Deutschland fühle ich mich immer noch nicht wirklich heimisch. Aber im ­Internet habe ich ein Zuhause gefunden.
Das ist für Sie mehr als ein Medium?
Das Netz ist ein Raum, in dem ich zusammen mit anderen lebe. Die Unterscheidung von real und virtuell mache ich nicht mit. Und jeder Raum, in dem sich eine Gesellschaft bildet, ist politisch. ...
Irgendwann aber muss doch jemand sagen, was Sie vertreten.
Geduld, wir sind mit unserem Grundsatzprogramm noch nicht fertig. Ich bin aber sicher, dass wir das bis zur Bundestagswahl hinbekommen. Sobald wir diesen Orientierungsrahmen haben, können wir unglaublich fix auf neue Situationen reagieren. Wir sind vernetzt, wir können in Hochgeschwindigkeit Meinungen erheben und diskutieren. So kommen wir schnell zu Positionen, die sich nicht so schnell ändern – weil sie vorher von Tausenden Köpfen überprüft wurden. Das verschafft uns einen riesigen Vorteil. Programme sind gar nicht so wichtig. Einmal an der Macht, halten sich Parteien heute doch ohnehin nicht daran. Viel wichtiger ist, wie eine Partei mit einer neuen Situation umgeht. Und da haben wir bei den Piraten einen Prozess geschaffen, durch den wir zusammen mit vielen zu einer guten Lösung kommen.
Ihr zentrales Ziel ist die Liquid Democracy. Was ist denn das?
Eine Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie. In einer Liquid Democracy hat jeder eine Stimme, muss die aber nicht selbst nutzen, sondern kann sie an andere Personen delegieren. An einen Freund, einen Experten, dem er vertraut oder an einen Politiker. Sie können Ihre Stimme auf Dauer delegieren oder für bestimmte Themen oder auch nur für eine konkrete Abstimmung. Und wenn Ihnen nicht gefällt, was in Ihrem Namen geschieht, können Sie die Stimme jederzeit wieder zurücknehmen und selbst abstimmen.



Aus Die Tricks der Verkäufer Das will ich haben! von Marcus Rohwetter
in Die Zeit 20.04.2012 Nr. 18

Verkaufsprofis wissen, wie man Menschen führt und verführt. »Was du kaufst, bestimmen die anderen«, schreibt der Buchautor und Marketingfachmann Martin Lindstrom und folgert: Der Kauf als freie und bewusste Entscheidung am Ende eines rationalen Abwägungsprozesses ist eine Illusion. Wir kaufen nicht selten, was wir kaufen sollen. Wir bezahlen dann den Preis, den wir bezahlen sollen. Und sind am Ende überzeugt, das Richtige getan zu haben. ...

Stärker denn je hängt unser Wohlstand am Kauf von Autos, Duschgels, Wellnesswochenenden und Nudelsuppen. Die Wirtschaft will wachsen. Ohne Shopping geht das nicht! Dabei fallen Entscheidungen über Kauf und Nichtkauf oft binnen Millisekunden im Unterbewusstsein. Reflexartig greifen wir nach dem einen Produkt und lassen das andere liegen, sagen mal Nein und mal Ja.
Gute Verkäufer wissen, warum. Sie machen uns zu Jasagern. Immer wieder.
Inzwischen weiß man auch, warum das so ist. »Ja zu sagen kann gravierende Konsequenzen haben. Gleichwohl sieht es so aus, dass Menschen diese Antwort nicht auf Grundlage von bedächtigen oder vernünftigen Überlegungen geben«, bilanziert der Sozialpsychologe Jerry Burger von der Santa Clara University. Statt der Vernunft lenken Heuristiken unser Handeln, sogenannte mental shortcuts. Das sind tief im Unterbewusstsein verankerte Faustregeln, mit denen Menschen seit Urzeiten ihren Alltag meistern. Dumm nur, wenn sie instrumentalisiert werden, um uns zum Zahlen zu bewegen.
Robert Cialdini erforscht diese Faustregeln seit Langem. Er leitete die amerikanische Gesellschaft für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie und hat zahlreiche Arbeiten über die Abkürzungen in unserem Hirn veröffentlicht. »Wir leben in einer außerordentlich komplizierten Welt, zweifelsohne der schnelllebigsten und komplexesten, die es je gegeben hat«, erklärt Cialdini. »Um sich in ihr zu behaupten, brauchen wir Faustregeln – Möglichkeiten, rasch, ohne Umwege und langes Überlegen zu reagieren.« Und diese Regeln können sehr sinnvoll sein. Wir denken nicht nach, wenn wir eine Tür öffnen, sagen Bitte und Danke und grüßen zurück, wenn uns jemand grüßt. Wer auf Alltagssituationen automatisch reagiert, spart Kraft, Zeit und Energie.
So sind wir. Nicht alle, nicht immer, aber doch viele oft. Es ist schwierig, dem Impuls zu widerstehen. Oder dem Diktat der Gruppe.
Wir sind längst nicht so individuell, wie wir gerne wären. Wie sonst ließe sich der Massenhype um Apple-Produkte erklären, mit denen viele Millionen Menschen zugleich ihr individuelles Lebensgefühl auszudrücken glauben? Was alle machen, muss richtig sein. Wie sehr ähneln sich doch die typischen Ausreden ertappter Raser auf der Autobahn oder von Nutzern illegaler Musiktauschbörsen im Internet: Das machen doch alle!


Aus Höhenflug der Piraten Die guten Populisten Eine Kolumne von Jakob Augstein

In SPON 30.4.2012
Populismus ist Politik für Leute, die die Nase voll von Politik haben. Populismus ist das Versprechen, die verschlungenen Pfade der Politik zu verlassen und gerade Wege zu gehen. Die Piraten sind eine populistische Partei. Aber sie lehren uns, dass es auch so etwas wie einen guten Populismus geben kann. Einen, der nicht mit Angst auf Stimmenfang geht, sondern mit Hoffnung.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendwann auch in Deutschland eine populistische Partei Erfolg haben würde. Die Nachbarn kennen das Phänomen schon lange: Von Marine Le Pen, die den Rassismus des Front national subtiler verkauft als ihr Vater und darum noch erfolgreicher ist, über den Niederländer Geert Wilders, der im Internet eine "Meldestelle für Störungen durch Osteuropäer" eingerichtet hat, bis zu den homophoben Rechtskatholiken in Polen und den Anti-Europäern in Dänemark und Finnland.


Hoffnung für die vernachlässigte Demokratie
Die Piraten entlarven die Simulationen des Politikbetriebs. Sie weigern sich, bestehende Spielregeln zu akzeptieren. Das ist ein wohltuender Populismus, den sich die neue Partei da leistet. Wie in einem Reflex fragen die auf herkömmliche Polit-Berichterstattung trainierten Journalisten jetzt die Piraten-Standpunkte ab, vom Pflegegeld über die Frauenquote bis zum Nahost-Konflikt. Aber der neue Parteichef Schlömer fragt im Interview mit SPIEGEL ONLINE: "Muss jede Partei zu allen politischen Themenfeldern dezidierte Positionen vertreten? De facto haben selbst Volksparteien kein Vollprogramm."
Es ist ein Missverständnis, von den Piraten jetzt Antworten auf alle möglichen inhaltlichen Fragen zu verlangen. Sie wollen mehr als Reformen. Sie wollen eine Reformation des politischen Prozesses.
Das Risiko der vernachlässigten Demokratie besteht ja darin, dass ihr auf Dauer die Demokraten ausgehen. Es kommen dann andere und nutzen ihre Chance. Die Piraten machen Hoffnung, dass die Kräfte der Enttäuschung in Deutschland nicht ins Ressentiment fließen. Sie zeigen, dass Erneuerung der Politik nicht automatisch Berlusconismus bedeuten muss - für den die Deutschen, siehe Guttenberg, ebenso anfällig sein können wie ihre europäischen Nachbarn.
Aber bei den Piraten gibt es keine Spur von Führerkult. Im Gegenteil: Politische Geschäftsführerin Marina Weisband, Star der Partei, hat sich auf dem Parteitag in Neumünster zurückgezogen, um ihr Psychologie-Studium in Münster fertig zu machen, und die Amtszeit des Parteichefs bleibt auf ein Jahr begrenzt.
Die Wirklichkeit spaltet sich
Die Piraten sind naiv, idealistisch, romantisch. Umso besser. Sie sind eine deutsche Antwort auf die Politikverdrossenheit, die ein Risiko der modernen Gesellschaft ist. Diese Verdrossenheit findet ihre Ursache in einer moralischen Entkräftung des Systems. Die Institutionen funktionieren. Aber die Werte, für die die Institutionen stehen sollen, verlieren ihre Bedeutung. Die Wirklichkeit spaltet sich.
Die etablierten Parteien haben vergessen, was der Soziologe Oskar Negt gelehrt hat: Demokratie ist mehr als Machttechnik.

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