Donnerstag, November 22, 2012

Wollen Sie mit dem Tod leben?

ARD-Themenwoche Teaser. Quelle: ARD
Oder vor dem Tod leben? Die ARD zwingt uns ein Thema auf und verliert es dabei aus den Augen.
Nun ist es endlich soweit. Das Marketing entdeckt die allerletzten Fragen, die endgültigen Fragestellungen, die ultimativen Szenarien. Mit der ARD-Themenwoche "Leben mit dem Tod" ereilt uns alle, die wir zahlende Mitglieder der öffentlich-rechtlichen Hörer- und Sehergemeinde sind, das Schicksal der medialen Aufarbeitung allerletzter Fragen. Schön, nicht wahr? Vermutlich ist es möglich, Broschüren bei den Sendern zu bestellen, in denen einem das Leben mit dem Tod erläutert wird, inklusive Kosten. Wahrscheinlich hält die ARD-Mediathek für alle Ewigkeit die zielführenden Beiträge problemzentrierter Volontäre und freier Mitarbeiter für uns alle bereit - on demand.



Das hat natürlich im Vergleich zu den Kirchen, die das alle Jahre im November als Teil des Kirchenjahres behandeln, den Vorteil, dass es fast flächendeckend jeden Haushalt erreicht und kein Kunde ihm entkommen kann. Vermutlich aber sind die Kirchen als Medienpartner mit im Boot, so dass auch theologisch und seelsorgerisch - hoffentlich - keine letzte Frage offen bleiben wird. Bis auf eine vielleicht: Kann man denn mit dem Tod leben? Welche Grundannahme steckt eigentlich dahinter, welche Einstellung zum Thema verrät dieser selbst gewählte Titel? Zur Erörterung dieser – womöglich vorletzten - Frage kann man das medienkritische Geplänkel einstellen und sich nur auf die Fragestellung konzentrieren.

Lauter letzte Fragen
"Leben mit dem Tod", ist darunter zu verstehen, dass der Tod allgegenwärtig ist, dass wir ihm überall begegnen oder meint man damit, dass es eine Methode geben könnte, mit deren Hilfe man mit dem Tod lernen kann zu leben, wie man mit dem sonnigen Klima am Mittelmeer lebt oder der schlechten Laune im Einzelhandel? Schlimmer noch, wenn der Tod tatsächlich allgegenwärtig ist und wir lernen müssen, uns mit ihm zu arrangieren, ist er dann unser steter Begleiter und wir akzeptieren ihn, nehmen ihn in unser Leben hinein oder tolerieren wir ihn als unausweichlichen Endpunkt unserer materiellen Existenz? Von den antiken Stoikern ist überliefert, dass sie der Überzeugung waren, man solle sich über den Tod solange keine Gedanken machen, wie man am leben sei. Erst mit dem Eintritt des Todes werde dies ein Thema – doch dann sei man zu tot zum Denken und Bedauern. Ein intellektueller Taschenspielertrick, ja, aber nicht ohne Charme. Im Barock allerdings, knapp 1800 Jahre später, war man sich im Klaren darüber, dass Leben und Tod zwei Seiten einer Medaille seien, die unlöslich mit einander verbunden sind. Tod, das ist dabei nicht allein das Sterben, das Ende des Lebens, sondern auch die Vergänglichkeit, die Zerbrechlichkeit des Lebens, die Unvollkommenheit menschlichen Strebens, das immer auf Ewigkeit und Vollendung angelegt scheint.

Leben mit dem Tod im 21. Jahrhundert weiß von dieser Nuance wenig. Hier gilt zunächst nur der Kontrast zwischen Vitalität und Mortalität, der Gegensatz von Anfang und Ende. Der Tod tritt erst dann in unser aller Leben, wenn uns unser bevorstehendes Ende mitgeteilt wird, sei es als medizinische Diagnose oder als fatales Ergebnis irgendwelcher Ereignisse. Dass der Tod als Kontrapunkt vielleicht schon viel früher in das Leben eintreten könnte, dass das Sterben viel umfassender und frühzeitiger an uns herantritt, steht im Grunde nicht auf dem Plan. Seit den Zeiten des Barock mit seinen von der Reformation und den Erlebnissen des Dreißigjährigen Krieges geprägten kulturellen Hervorbringungen hat sich, fortgesetzt mit dem Zeitalter der Aufklärung mehr und mehr der Tod aus der Wahrnehmung der Lebenden heraus entwickelt. Riten und Rituale, Gedenken und Erinnerung sind bis heute immer mehr und mehr reduziert worden, bis hin zu dem vorherrschenden Trend der Neuzeit, Feuerbestattungen und anonyme Beerdigungen vorzunehmen. Heute hat die Überzeugung an Raum gewonnen, dass mit dem Tod das gewesene Leben quasi endgültig auszulöschen wäre, seine Spuren verwischt und seine Gegenwart aufgelöst werden müssten. Leben mit dem Tod? Viele von uns Zeitgenossen wollen eben das nicht. Als ob das Leben per se ein missratener Zeichnungsversuch, ein misslungener Entwurf, ein gescheiterter Anlauf gewesen sei. Es liegt darin auch die Andeutung ein letzter Hauch von tragischer Verzichtsgeste, ein letztes Zurücktreten hinter eine größere Macht. Und in der letzten Geste des völligen Verschwindens liegt die Bestätigung, wie sehr man doch auf die ewige Erinnerung gesetzt hat, auf das Nicht-vergessen-werden. Im Vorgriff auf eben diesen traurigen Schlusspunkt, soll der Tod den radikalen Schluss setzen, das endgültige Finale bilden. Wer so verschwindet, der möchte gesucht und vermisst werden.

Die geheime Drohung
Seltsamerweise wirkt diese Vorstellung sich nicht auf die Gestaltung des Lebens selbst aus. Anstatt auf das endgültige ultimative Vergessen zu setzen, könnte man daran denken, sich durch gute Taten und ein ehrenvolles Leben im Dienste der Gemeinschaft ein ehrendes Andenken aufzubauen. Diejenigen, die dies bereits heute tun, denken vermutlich dabei weniger an ihren Nachruhm als daran, etwas Gutes bewirken zu wollen, das gegen das Böse und das Schlechte, das Unglückliche und das Unvollkommene wirken wird. In dieser Vorstellung steckt natürlich auch viel von der Idee, dass wir alle etwas tun können, das über unsere Lebenszeit hinaus wirksam sein könnte. Vielleicht ist es die Erweiterung unseres Blickfeldes auf globale Dimensionen, die uns bescheiden werden lässt, die uns den Mut raubt, daran zu glauben, wir könnten etwas schaffen, was überdauert und über das Datum unseres Sterbens hinaus wichtig sein könnte. Vielleicht aber ist es auch die zunehmende Vereinzelung in unserer Gesellschaft, die daran zweifeln lässt, dass unsere Tatkraft gefordert sein könnte, dass unsere Möglichkeiten zu handeln für andere Menschen von Bedeutung sind. So könnte es also sein, dass uns dieser Boden unter den Füßen weggezogen wurde und aus dem Tod ein großes tragisches Ereignis des Verschwindens und Vergessens gemacht hat? Dass also der Tod seine Bedeutung völlig geändert hat, nicht mehr die Erlösung, die Heimholung, die Belohnung, sondern das abrupte Beenden, totales Verschwinden, unfreiwillig vielleicht, gegen unseren Willen, gegen unseren Widerstand?
Leben mit dem Tod? Nicht in diesem Sinne. Wie sollte man mit dem Datum des Endes und Vergehens leben können? Es ist eher die geheime Drohung, die unausgesprochene Erinnerung daran, das eine oder andere Werk zu vollenden, auf dass man diese Erde in dem Bewusstsein verlassen kann, alles erledigt, alles Notwendige getan, alles geordnet zu haben. Wenn der Tod kein Übergang mehr ist in eine andere, vielleicht sogar in eine bessere Welt, dann ist das Leben auch kein ständiger Prozess der Vorbereitung, kein dauernder Vorgang der Qualifizierung für das, was danach kommt. In diesem Sinne gibt es kein Leben mit dem Tod, in diesem spirituellen Sinne. In diesem Sinne sind Leben und Tod völlig unterschiedliche Dinge, noch nicht einmal die beiden Seiten einer Medaille. In diesem Sinne ist der Tod eher ein Versorgungs- oder schlimmer noch: Entsorgungsproblem?

Der moderne Umgang mit dem Tod ist ein funktionaler. Wie ist die medizinische Versorgung des Todkranken sicher zu stellen? Woher erhalte ich als Angehöriger Hilfe und Unterstützung bei der Pflege? Wie gehe ich verantwortungsbewusst mit dem Sterben um? Wie verarbeite ich selbst den Verlust eines geliebten Menschen? Wie verkrafte ich das Leiden, wie überstehe ich das Grauen des Schmerzes anderer? Kernpunkt der Überlegungen ist die Wiederherstellung der Ordnung, die durch den Verlust eines Menschen verloren geht. Kernpunkt ist die Neugestaltung der Lebensverhältnisse nach dem Tod des Menschen. Es ist ein sehr diesseitiger Begriff, ein sehr lebensnaher, vielleicht sogar auch lebensbejahender Begriff. Wenn lebensbejahend, dann aber auch todesverneinend, vielleicht sogar im Sinne der alten Stoiker. Vor allem aber ist dies eine Herangehensweise, die so lebensbejahend ist, dass sie vor allem den Lebenden, den Überlebenden nutzt, die Toten nicht weiter tangiert und die Sterbenden völlig außer acht lässt.

Vielleicht kommt es ja so weit, dass sich jemand die Frage stellt, wie das Miterleben des Leidens und Sterbens in Verbindung mit Mitleid, Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit uns eine neue Qualität beschert oder auch eine verlorene Qualität wiederverschafft. Leben mit dem Tod müsste auch zum Ziel haben, Leben und Tod besser zu verstehen, Leben und Tod einander näher zu bringen. Es geht nicht um einen neuen Todeskult oder Ähnliches, sondern um den Respekt und das Mitleid. Am Tod ist nicht das Tot- sein das Bedrohliche, sondern das Sterben. Das Sterben als der schleichende Verlust der Lebenskraft, als der schmerzhafte Verzicht auf jegliche Lebenslust, als das ersatzlose Verlieren all dessen, was uns im Leben von Wichtigkeit war, ist das eigentlich Beängstigende. Je mehr wir Jugendlichkeitskult und Erlebnisgewinne kultivieren und vergöttern, um so mehr erscheint uns der Tod, der uns all das nehmen wird, als Ungeheuer und diebische Bestie. Wie kann, wie soll der Tod da im Leben seinen Platz haben, wenn so gut wie alles, was das Leben lebenswert macht, ihn negiert, ihn nicht zur Kenntnis nimmt und manchmal sogar dazu angetan ist, ihn durch das Eingehen unerhörter Risiken herauszufordern?

Sammelsurium von Geschichten
Im Ergebnis wäre wünschenswert, dass wir den Tod akzeptieren und respektieren, damit wir wieder das richtige Gefühl für das Leben bekommen. Das Leben ist kein ewiger Rummelplatz und keine fortwährende Varieté-Show, sondern unsere einzige Chance zum Glück. Wer das riskante Spiel um den größtmöglichen Kick als zynische Verhöhnung der Sterblichkeit des Menschen begreift und erkennt, wie leichtfertig und dumm dieser verschwenderische Umgang mit der Lebenskraft ist, der sollte dem Thema Tod mit dem nötigen Respekt begegnen und seinen Frieden mit ihm machen. Das ist allerdings mehr als "Leben mit dem Tod", das ist mehr als ein Sammelsurium von Geschichten und Anekdoten rund ums Thema Tod, wie man es in den Medien so gern als Servicethema anpreist.

Wir sollten uns um ein erfülltes Leben bemühen, das darauf angelegt ist, mehr als nur reine Bedürfnisbefriedigung zu sein. Ein erfülltes Leben lässt den Gedanken an das Ende erträglicher erscheinen und gibt uns die Kraft, diejenigen von uns, die vor uns gehen müssen, angemessen zu begleiten und zu trösten. „Leben mit dem Tod“ - ein zum Scheitern verurteilter Ansatz, der zu nichts führt, wenn man ihn zum bienenfleißigen Talk- und Featurethema vervielfältigt und im Wirrwarr der Berichte genau jene Beliebigkeit im Umgang mit dem Thema Tod erstellt, die man doch angeblich beenden wollte. „Mitten im Leben sind wir umfangen vom Tod“, Luther wusste das und durfte es noch sagen. Wir wollen heute vom Tod nichts wissen und hoffen, er möge uns verschonen. All unsere Coolness und Abgeklärtheit kann nicht darüber hinweg täuschen, dass es uns an der Kunstfertigkeit, mit dem Tod leben zu können, mangelt. Dabei könnte es so einfach sein, glaubt man dem Dichter Hans Dieter Schwarze, der auf die Frage „Was heißt Leben?“ antwortete „Sterben üben. Was sonst?“

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