Samstag, Mai 12, 2012

documenta mon amour


In Erwartung großer Dinge


Eigentlich war es schon lange überfällig. Nach dem Motto "keine documenta ohne kleinen Vorab-Skandal" ist pünktlich wenige Wochen vor Beginn der weltgrößten Kunstausstellung der erste PR-Event über die Bühne gegangen. Seit über einem Jahr schon tingelt die documenta-Macherin Carolyn Christov-Bakargiev rund um die Welt, um den künstlerischen Diskurs weltweit in Gang zu setzen. Oder in Gang zu halten, nur mit dem Ziel, ihn in den 100 tollen Kasseler Tagen im Sommer 2012 zu Ende zu bringen. Oder zu seinem Höhepunkt.


HNA-Bericht vom 9.5.2012

Insider der globalen Kunstszene werden seit geraumer Zeit mit Diskussionsstoff und Diskursen versorgt. Seit einigen Jahren scheint es zur guten Gewohnheit zu werden, die documenta weit vor der eigentlichen Eröffnung in ausgesuchten Metropolen der Welt beginnen zu lassen. Warum auch nicht, wer Kunst als permanente Auseinandersetzung mit ihren Hervorbringungen verstehen will, der wird sie sicher nicht auf 100 oder 150 Tage in Ausstellungsräumen einsperren und der Betrachtung zugänglich machen. Leider aber verfährt man gerade so mit dem Ort des Geschehens, dem beschaulichen Kassel und seinen 200.000 documenta-erfahrenen Einwohnern. Sie bleiben und blieben weitgehend unbehelligt. Selbst umfangreiche geheimnisumwitterte Erdarbeiten im örtlichen Parkgelände an der Fulda erregten nur mildes Interesse der Kasseler, als geübte Kunstgastgeber seit 1955 an Geheimnisse und Rätsel rund um die Ausstellung gewohnt. Abwarten und sich überraschen lassen! lautet die Devise und damit haben die Kasseler ein distanziert-besitzergreifendes Verhältnis zu ihrer documenta aufgebaut.
Aber rgerade dies, die durchaus liebevoll gemeinte besitzergreifende Geste der Bürger ist es, was immer wieder auf Ablehnung oder Desinteresse der jeweiligen documenta-Leitung stößt. Catherine David, documenta X-Chefin, hatte dies auf die Spitze getrieben, in dem sie per Interview den Kasselern einen sehr kritischen Spiegel vorhielt und ihrem Missfallen am städtebaulichen Zustand der Stadt zum Ausdruck brachte. Ihre Nachfolger vermieden solche offenen Äußerungen und blieben in höflichem Abstand zum Kasseler Alltag.

STERN-Bericht zum Thema vom 9.5.2012

Und nun also hat es ausgerechnet die katholische Kirche mit Sitz im frommen Fulda vermocht, sich den heiligen Zorn der Ausstellungsmacherin Carolyn Christov-Bakargiev  zuzuziehen. Was war geschehen? Das Bistum Fulda hatte im Zusammenwirken mit einer Kirchengemeinde, deren Sitz direkt am Friedrichsplatz, zentraler Spielort der documenta in der Kasseler City, liegt, eine der bekannten, allgegenwärtigen Holzskulpturen des aus Nordhessen stammenden Künstlers Stephan Balkenhol in einen Kirchturm platziert. Traurig und zornig zugleich meldete sich die Kuratorin öffentlich zu Wort, in einer eigens einberufenen Pressekonferenz bemühte man sich, dem gerechten Zorn Luft zu verschaffen, auch wenn man nicht als Zensor auftreten wolle.

Dominanz oder Nicht-Dominanz?

Da steht also nun also der anonyme Holzmann, hoch über dem Platz auf einer goldenen Kugel, breitet seine Arme aus und gibt keinerlei Auskünfte über den Grund seines Dortseins. Dominiert er von dort oben den Platz und beeinträchtigt tatsächlich das Nutzungskonzept des Platzes durch die documenta? Kassels Bürger sind in der Beurteilung dieser Frage durchaus uneins. Eine Tendenz war jedoch deutlich spürbar, das Unverständnis für die harsche Reaktion der documenta-Leitung und das Gefallen an der Balkenhol-Skulptur hoch droben. Sei es wie es sein, gegenwärtig ist nicht bekannt, ob und wie die Diskussion darüber ihren Fortgang nehmen wird. Deutlich wird aber an diesem Konflikt, die auch nach 57 Jahren seit ihrer Gründung bestehende Asymmetrie im Miteinander von Weltkunst und Provinzbühne. 

In dem Maße wie vor allen in den letzten 20 Jahren das Interesse, ja, die Zuneigung der Kasseler zur documenta deutlich gewachsen ist, so klar ist, dass sich der Welt größte Kunstausstellung mit zuletzt 700.000 Besuchern, schwer tut mit ihrer Heimatstadt. Nun mag Kunst ja wirklich heimatlos sein, muss es ja vielleicht auch, um ihren universellen Anspruch zu wahren und ihre allumfassende Wirkungsmöglichkeit nicht im nordhessischen Habichtswald zu verlieren, aber die Entstehung der Ausstellung gerade im vom Krieg grausam zerstörten und im deutsch-deutschen Herrgottswinkel nach der Teilung wieder aufgebauten ehemaligen Residenzstadt ist ein wichtiges Stück neuerer deutscher Geschichte. Hier versuchte Arnold Bode an die Kunst der Gegenwart anzuknüpfen, von den Nazis verlorengegebenen Kulturterrains wieder zurück zu erobern und die Deutschen in die Kunstgeschichte zurückzuholen.

Unerwiderte Liebe

Dies ist in 57 Jahren eindrucksvoll gelungen und darauf sind alle Kasseler, egal wie nah sie dem Thema Kunst stehen, zurecht stolz. Gerade deshalb empfinden sie das Wirken mancher Kunstexperten und deren Umgang mit ihrer Stadt so kränkend und enttäuschend. Es ist die meist unerwiderte Liebe der Bürger zur documenta, die immer wieder solche Probleme entstehen lässt wie nun mit der einsamen Figur im Kirchturm. Kassel ist sich sehr wohl bewusst, welche segensreiche Wirkung die documenta als Zuschauermagnet hat und wie wichtig sie für das Image der notorisch bespöttelten Stadt in der Mitte Deutschlands ist. Niemand aber möchte aus der documenta ein Kunst-Oberammergau machen, in dem alle Kunstlehrer und Hobbymaler der Region ihren Platz haben sollen. Kassel wünscht sich fast nichts mehr, als auf der langen Reise durch die aktuelle Geschichte der Kunst und entlang ihrer exemplarisch ausgewählten Exponate nicht aufs Strafbänkchen verwiesen zu werden, weil der Sachverstand fehlt. Vielmehr möchte man als vollwertiger, wertgeschätzter Gastgeber die Gunst der Nähe genießen und sich von der Kunst und der Diskussion darüber beeinflussen lassen. Nicht zuletzt deswegen sind viele Ausstellungsstücke gewesener documenta-Präsentationen in der Stadt geblieben und prägen das Stadtbild auf besondere Weise.

Kassel mit offenen Armen

Vielleicht wirkt sich ein verwegener Kniff der Austellungsmacherin ja als wichtiger Schritt in die richtige Richtung heraus: Führungen werden in der Mehrzahl von eigens geschulten Kunst-Laien, den Wordly Companions, durchgeführt, von denen viele aus der Region stammen. Warten wir doch einfach mal ab, ob die Companions in der Lage sind, die documenta die documenta näher an Kassel heranzubringen. Dann wird Kassel sie mit den offenen Armen empfangen, wie sie der rätselhafte Mann im Glockenturm ja schon ausbreitet.

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