Freitag, November 30, 2012

Denken, bitte. Jetzt!

Hans Magnus Enzensberger

Zweifel

bleibt es, im großen und ganzen, unentschieden
auf immer und immer, das zeitliche spiel
mit den weißen und schwarzen würfeln?
bleibt es dabei: wenig verlorene sieger,
viele verlorne Verlierer?


ja, sagen meine feinde.
ich sage: fast alles, was ich sehe,
könnte anders sein, aber um welchen preis?
die spuren des fortschritts sind blutig,
sind es die spuren des fortschritts?
meine wünsche sind einfach,
einfach unerfüllbar?
ja, sagen meine feinde.
die Sekretärinnen sind am leben,
die müllkutscher wissen von nichts,
die forscher gehen ihren forschungen nach,
die esser essen, gut so.
indessen frage ich mich:
ist morgen auch noch ein tag?
ist dies bett eine bahre?
hat einer recht, oder nicht?
ist es erlaubt, auch an den zweifeln zu zweifeln?
nein, euern ratschlag, mich aufzuhängen,
so gut er gemeint ist, ich werde ihn nicht befolgen,
morgen ist auch noch ein tag (wirklich?),
die augen aufzuschlagen und zu erblicken:
etwas gutes, zu sagen: ich habe unrecht behalten.
süßer tag, an dem das selbstverständliche
sich von selber versteht, im großen und ganzen!
was für ein triumph, kassandra,
eine Zukunft zu schmecken, die sich widerlegte!
etwas neues, das gut wäre,
(das gute alte kennen wir schon ...)
ich höre aufmerksam meinen feinden zu.
wer sind meine feinde?
die schwarzen nennen mich weiß,
die weißen nennen mich schwarz.
das höre ich gern, es könnte bedeuten:
ich bin auf dem richtigen weg.
(gibt es einen richtigen weg?)
ich beklage mich nicht, ich beklage die,
denen mein zweifel gleichgültig ist.
die haben andere sorgen.
meine feinde setzen mich in erstaunen,
sie meinen es gut mit mir.
dem wäre alles verziehen, der sich abfände
mit sich und mit ihnen.
ein wenig Vergeßlichkeit macht schon beliebt.
ein einziges amen,
gleichgültig auf welches credo,
und ich säße gemütlich bei ihnen
und könnte das zeitliche segnen,
mich aufhängen, im großen und ganzen,
getrost, und versöhnt, ohne zweifei,
mit aller weit.
auf das grab eines friedlichen mannes
dieser da war kein menschenfreund,
mied Versammlungen, kaufhäuser, arenen.
seinesgleichen fleisch aß er nicht.
auf den Straßen ging die gewalt
lächelnd, nicht nackt.
aber es waren schreie am himmel.
die gesiebter der leute waren nicht deutlich,
sie schienen zertrümmert,
noch ehe der schlag gefallen war.
eines, um das er zeitlebens gekämpft hat,
mit Wörtern und zahnen, ingrimmig,
hinterlistig, auf eigene faust:
das ding, das er seine ruhe nannte
da er es hat, nun ist kein mund mehr
an seinem gebein, es zu schmecken.
erinnerung an die sechziger fahre
heiter mit liebe und arbeit
beschäftigt, furchtlos
beschäftigt mit unserer furcht,
ruhig mit unserer unruhe,
sorglos beschäftigt
mit unsern sorgen
entglitten wir,
flogen, landeten,
noch einmal waren die ufer offen.
ruhig waren die nördlichen abende
im juni, sorglos schlug die messinguhr
auf den inseln, leicht ging ein helles gelächter,
leicht gingen kleine schreie, leicht
ging eine junimusik durch die hellen Zimmer
nachts, vergeßlich stand das hölzerne haus,
das gefriedete, in dem es nicht dunkel ward,
ruhig, ruhig lag das boot am Steg, ruhig
gingen gespräche hin unter freunden,
ruhig entglitten die weißen stimmen,
als wäre da glück gewesen, ruhig
standen die bücher, die felsen, auf dem sims
stand der helle branntwein.
sorglos entglitten wir
der zeit des gleitens,
furchtlos also unwissend
ruhig also überflüssig
heiter also unbarmherzig:
also schwanden wir
aus jenen jahren.
die felsen dort,
unwissend furchtlos
überflüssig ruhig
unbarmherzig heiter:
die felsen sind noch am leben.

Aus "blindenschrift“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt

1 Kommentar:

Bitch hat gesagt…

Fantastisch...
jedes Wort ein Messestich !
Gut, dass dieser Enzensberger noch zu Schrift kommt !!!
Und gelesen wird !!