Freitag, November 30, 2012

Der große Plan, die große Verschwörung, die große Erzählung

Mark Lombardi - Narrative Struktur, doc 13 2012 Foto: Ruß

Verschwörungstheorien sind normaler Bestandteil der sozialen Folklore. Nur haben sie uns etwas zu sagen? Oder sagen sie uns nicht vielmehr etwas über uns selbst? Aber was nur?
Wenn das 21. Jahrhundert das Zeitalter der Information und des Wissens ist, wenn die Gegenwart ein unaufhörlicher Stream von neuen Erkenntnissen ist, wenn Bildung und Lernen im Rang von Tugenden stehen, wo bleiben dann die Rätsel und Geheimnisse, wo bleiben die unentdeckten Winkel, die ungelösten Fragen? Wenn über all Antworten sind, wer stellt dann die Fragen? Wenn jede Informationsquelle offen steht, wenn jede öffentliche Stelle auskunftsverpflichtet ist, wenn eine funktionierende Presse beständig jeden Stein umdreht, um auch die letzte und geheimste Verschwörung aufzudecken, - was bleibt dann für uns zu tun, wo bleiben dann die Herausforderungen und Wagnisse? 


So wie es die Menschen inzwischen in immer waghalsigeren Aktionen auf die höchsten Berge, in die tiefsten Meeresgräben, in die schnellsten Autos und die gefährlichsten Gegenden treibt, so sucht sich der aktive Geist seine Spielflächen und Labyrinthe, in denen er sich noch erproben und beweisen kann. Und geht dabei mindestens so halsbrecherische Risiken und Experimente ein, wie die Kollegen von der Sportfraktion auf den Bergen. Oder was sind die grassierenden Verschwörungstheorien anderes, die seit Jahren die Phantasien von Millionen bewegen und so etwas wie ein völlig anderes Bild der Gegenwart und den ihnen inne wohnenden Kräften produzieren? Roswell, John F. Kennedys Ermordung, Marilyn Monroes Selbstmord, die Mondlandung, Papst Johannes Paul I., 9/11, der Tsunami 2004.... eine lange Liste von Geschichten und Ereignissen, eine immer länger werdende Liste. 

Verschwörung? Oder nur eine physikalische Formel bei der doc 13?
Für jede dieser Geschichten gibt es klare, rationale, logische Erklärungen, teilweise sogar offizielle Untersuchungsberichte. Und dennoch haben es die meisten dieser Theorien in die Folklore verschiedener Gruppen in der Gesellschaft gebracht. Man stößt überall auf ihre Spuren, am Stammtisch und bei der Party, in den Medien und in den Erzählungen unter Freunden. Sie teilen die Gesellschaft in jene auf, die wissen und/oder eingeweiht sind, und in jene, die völlig ahnungslos weiterleben und sich permanent täuschen lassen. Dies hat den interessanten Nebeneffekt, dass es eine Umkehrung der Verhältnisse ergibt, wer sich eben noch zur Informationselite zählte und auf der Höhe der Zeit wähnte, dem wird suggeriert, dass er einem gigantischen Komplott aufgesessen ist und in Wahrheit nichts weiß. Der geringste Zweifel ist schon Berechtigung, Komplotte und Verschwörungen zu vermuten.

Kennzeichnend für diese Art von Theorien ist es, dass sie um so hartnäckiger kommuniziert und erweitert werden, je eindeutiger die Verhältnisse zutage liegen scheinen. Verschwörungstheorien sind, einmal in die Welt gesetzt, unwiderlegbar. Da es meist keine harten Beweise für die eine oder andere Theorie gibt, kann der jeweilige Gegenbeweis nicht angetreten werden. Ergo gilt die Ausgangsthese als bewiesen. In einer komplexen Welt, in der Ursache und Wirkung, Urheber und Nutznießer, Anfang und Ende selten einfach auszumachen sind, in einer solchen Welt gilt die Komplexität eines Problems oder Vorgangs allein zumindest als Hinweis auf die mögliche Existenz einer Verschwörung. Grenzen kennt diese Art des Denkens nicht. Selbst der katastrophale Tsunami von Weihnachten 2004 könnte demnach auf Experimente des amerikanischen Geheimdienstes zurückzuführen sein. 
Die amerikanische Geheimdienste, egal ob CIA, NSA oder DIA, geraten dabei sehr viel häufiger, man möchte fast sagen ausschließlich, in den Fokus der Betrachtung. Kaum eine populäre Verschwörungstheorie erklärt Vorgänge in Asien, Afrika oder anderswo auf der Welt. In den allermeisten Fällen dreht es sich um die USA, in der die Urheber für allerlei Schurkisches vermutet werden. Am Ende ist das gar eine Verschwörung gegen die USA? 

Der amerikanische Künstler Mark Lombardi zum Beispiel hat sich nach eigenem Bekunden ausschließlich aus öffentlich zugänglichen Quellen über die bestehenden Beziehungen zwischen maßgeblichen Persönlichkeiten der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft informiert. Seine daraus entstandenen, von ihm selbst als narrative Strukturen bezeichneten Werke, großformatige, penibel gezeichnete schematische Darstellungen von Interaktion und Interdependenz zwischen bekannten und unbekannten Personen, suggerieren ein riesiges, monströses Geflecht von Interessen, Abhängigkeiten, Gemeinsamkeiten und Verabredungen.

Lombardi, der 2000 unter mysteriösen Umständen in seinem Atelier tot aufgefunden wurde, zog aus Zeitungsartikeln und Büchern und allen anderen erreichbaren Quellen seine Informationen, die er zu faszinierenden Gebilden verarbeitete, die auf den ersten Blick aussehen wie die graphische Abbildung komplizierter mathematischer Formeln. Der Betrachter steht davor und bemüht sich, Verbindungen nachzuvollziehen, die durch Bögen und Linien dargestellt, aber durch keine weiteren Informationen untermauert oder begründet werden. Mit Hilfe von unermüdlicher, rastloser Arbeit Tag und Nacht, und insgesamt 14.000 Karteikarten entstanden diese narrativen Strukturen, die inzwischen auch Teil der letzten Documenta waren. Hier stellt sich genau der Effekt der Beweisführung qua Masse und Suggestion ein, der oben angesprochen wurde: Der unwissende Betrachter, der dem Inhalt der Bilder mangels eigenem Wissen und eigener Recherche nichts entgegenzusetzen hat, muss zunächst konzedieren, dass diese Darstellungen zumindest theoretisch beanspruchen können, zu stimmen, zutreffende Anordnungen zu sein. Sie scheinen plausibel, sie erscheinen denkbar und deshalb realisierbar. Nur der Beweis, dass es tatsächlich so ist oder so war, der wird am Ende nicht angetreten. 

Völlig außer Acht gelassen wird dabei die Kritik an den Quellen. Das einzige, was man zunächst konkret über sie erfährt, ist das immer wieder zitierte "öffentlich frei zugänglich." Diese Bezeichnung suggeriert zum einen die Beiläufigkeit, mit der die Informationen in unserer täglichen Lebenswelt verborgen sind, und zum anderen, dass sie deshalb auch stimmen und der Wahrheit entsprechen. Aber was für Informationen gewinne ich aus einem Artikel in der New York Times, in der etwa die Begegnung eines Schauspielers mit Politikern und Unternehmern geschildert wird? Zunächst nur diese: Ein Schauspieler hat Politiker und Unternehmer getroffen. Interessant oder mit Bedeutung aufgeladen werden diese Teilinformationen aber erst dann, wenn sich weitere Hinweise finden lassen, in denen weitere, weiter gehende Verbindungen oder Kontakte andeuten lassen. Dem Verfasser dieser Zeilen beispielsweise ist ein ehemaliger deutscher Minister flüchtig bekannt, der im Weißen Haus dienstlich zu tun hatte, also den damaligen amerikanischen Präsidenten kennt. So lässt sich also eine Beziehung herstellen in die eine Richtung und über einen anderen deutschen Politiker in den Kreml. Was sich dabei allerdings nicht ändert, ist, dass der Verfasser dieser Zeilen nie in Washington war oder jemals das Bundeskanzleramt in Berlin von innen gesehen hat. Es ließe sich jedoch eine Struktur konstruieren, die etwas anderes mutmaßen ließe. Mutmaßen, nicht aber beweisen.

Und eben daran krankt diese Form der Informationsverarbeitung. Man kann nicht wirklich qualifiziert beurteilen, wie planvoll die dargestellten Verhältnisse sind, welche Absichten dahinter stecken und welche Pläne aus ihnen erwachsen sind. Rückwärts gewandte graphische Darstellungen haben eine andere Wertigkeit. Wer heute etwa die Verflechtungen innerhalb des Dritten Reiches nachvollzieht, stützt sich auf frei zugängliche (!) Quellen in der Wissenschaft und kann wenig falsch machen, wenn er gründlich arbeitet. Nur neu und innovativ wird die Arbeit nicht sein. Dort aber, wo in der Gegenwart keine Ergebnisse kriminalistischer Untersuchungen vorliegen, muss die Qualität einer Beziehung deutlich geklärt werden. 

Anderenfalls ist die Narration, die Erzählung der graphischen Darstellung beliebig und frei interpretierbar. Durchaus denkbar, der berühmten Wiedergabe der Beziehungen der Präsidenten-Familie Bush mit der Unternehmerfamilie bin Laden eine gänzlich andere narrative Interpretation zugrunde zu legen, als der hinlänglich kolportierten. Wer erzählt, der muss begründen, der muss Zusammenhänge nicht nur konstruieren, sondern selbst herstellen, der muss nicht nur plausibel sein, sondern auch zutreffend. Erzählungen können anderenfalls auch entgleiten und ein Eigenleben entwickeln, erst recht, wenn die Form der Erzählung sich so weit von der geschriebenen, erzählenden Kommunikation entfernt wie Lombardis Strukturen. 

Foucaultsches Pendel Foto: pixelio.de/D. Schütz
Umberto Eco, der vielleicht, oder wahrscheinlich, aber gegebenenfalls auch nur vermutlich Lombardis Arbeiten kannte, als er sich entschloss, seinen Roman "Das Foucaultsche Pendel" zu schreiben, hat dort geschildert, wie unabsichtlich von drei teils sehr verschrobenen Charakteren durch ein eigens geschriebenes Computerprogramm ein "Großer Plan" geschrieben wird, der so etwas wie eine gigantische Weltverschwörung durch die Geschichte hindurch darstellt. Dieser große Plan existiert zunächst nur als Programm, bis sich herausstellt, dass tatsächlich Verschwörer existieren, die fürchten müssen, durch diesen dummen Zufall enttarnt und an der Ergreifung der Weltherrschaft gehindert zu werden. Der große Plan - das ist so was Ähnliches wie die Blaupause für jedwede vorstellbare Verschwörung. Dieser Plan könnte zum Beispiel auch den narrativen Strukturen Mark Lombardis zugrunde liegen. Dieser Plan oder auch ein anderer, das spielt keine Rolle.

Bei Verschwörungen spielt weniger das Ziel eine Rolle, als mehr ihre schiere Existenz beziehungsweise ihre vermutliche Existenz. Und, wer weiß, vielleicht ist Umberto Eco ein Komplize der Großen Verschwörung, die im Gange ist? Vielleicht war er ein willfähriger Jünger der Mächtigen, bis er endlich einsah, dass er anderen Wahrheiten verpflichtet ist? Um sich zu schützen, schrieb er das „Foucaultsche Pendel“ und versteckte Codes, Hinweise und Spuren darin, die es zu entschlüsseln gilt. Vielleicht spürt die Spur über Mark Lombardis Werk, das erst noch entschlüsselt werden muss.

Diese Frage nämlich bleibt noch unbeantwortet: Wenn es nicht der Große Plan ist, den Lombardi enthüllt, was ist es dann? Vielleicht ist es ja nur ein Experiment, die Unübersichtlichkeit der Welt exemplarisch sichtbar zu machen? Die Unermesslichkeit der menschlichen Möglichkeiten auf diesem Planeten anschaulich zu machen? Vielleicht wusste Lombardi es bis zur Nacht seines Todes selbst nicht.


Die Große Erzählung. Foto: pixelio.de/G. Altmann
Wahrscheinlicher ist, dass die Welt und alles, was wir in ihr zu erleben imstande sind, eine einzige große Erzählung ist. Aber eine ohne Plan, ohne Ziel. Eine Erzählung, die mäandert und springt, die mal hier und mal dort beginnt und endet, die laut und leise ist, immer gegenwärtig, immer lebendig, atmend, lebend, wachsend wie die Welt nun mal ist. In dieser Großen Erzählung ist Platz für alle Menschen, für ihre Träume, ihre Phantasien, ihre Heldentaten und ihre Verbrechen, ihre einsamen Gedanken und ihre verwegenen Verschwörungen. Vielleicht spricht die Welt durch diese Große Erzählung zu uns allen und durch sie sind wir mit einander verbunden. Manchem offenbart sich diese Erzählung als Verschwörung, anderen als Tragödie, wieder anderen als Soap Opera. Und wie jeder Erzähler verlangt es jeden von uns, die Geschichte, in der wir spielen, fortzuspinnen und zu einem guten Ende zu bringen. Und der Schurke im Stück, das unsere Welt und unser Leben heißt, das sind die Verschwörer und Geheimbündner, wie immer sie auch heißen mögen und wo immer sie sich jetzt, in dieser Sekunde, da dies geschrieben wird, auch versteckt halten mögen.

Vielleicht ist ja jede verrückte Tat, jeder blödsinnige Rekord fürs Guiness Buch, jeder Gipfelsturm, jede Weltumseglung, ein Teil dieser Erzählung, die die Welt und das Leben ist.






Keine Kommentare: