Sonntag, August 05, 2012

Digitale Demenz - Sozialer Tremens

Foto: pixelio.de/R.K. Altmann
Was an den sozialen Medien ist noch sozial oder war es jemals? 
Was kann an einem kommerziell genutzten Netzwerk tatsächlich sozial sein außer der Tatsache, dass eine immer größer werdende Zahl von Nutzern sich zu einer technisch verbundenen Gemeinschaft zusammenschließt? Ist das Telefonnetz nicht auch ein soziales Medium? Oder die Postdienstleistungen? Mit der Erfindung von Facebook und seinen Vorgängern und dem dazu gehörenden Schlagwort Social Media wurde suggeriert, dass es sich dabei um eine Gemeinschaft, eine Community handele, die dafür sorgen will, die Menschen einander näher zu bringen und neue, völlig neue Gemeinschaften zu bilden. Und siehe da, es funktionierte, fast eine Milliarde Menschen fühlen sich einer weltumspannenden Gemeinschaft angehörig, die es erlaubt, über geografische und politische Grenzen hinweg zu gehen, als seien sie nicht vorhanden. Ein zynisches Spiel mit alten Träumen und Utopien von Millionen Menschen, ein geniales Spiel mit den Erwartungen der Millionen, kommunizieren zu können und den eigenen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme neue Qualitäten hinzuzufügen. 

Es bedurfte erst eines schnöden Fehlschlags der überbewerteten Aktie Facebook, dass die Legende Facebook und seines Gründers Zuckerberg ansatzweise als das, was sie nun einmal sind, nämlich ein völlig normal operierendes gewinnorientiertes Unternehmen, entzaubert wurde. Dieselben, die knallhart die Geschäftspolitik von Coke und McDonald's durchschauten, sahen im Geschäftsmodell von Facebook eine Art sozial verträglichen und leistungsstarken, sinnvollen Ansatz. Ansatz zu was? Etwa nicht Profit? Gewinnmaximierung? Expansion? 


Foto: pixelio.de/F. Gopp
Das eigentliche Missverständnis besteht nach wie vor darin, dass an einem normalen Geschäftsbetrieb nichts Ehrenrühriges oder gar Unmoralisches sein kann. Unmoralisch wird der Facebook-Hype erst dadurch, dass seine Adepten und Propagandisten so taten, als ergäben sich hier andere als gewinnorientierte Perspektiven. Es mutet ja fast schon rührend an zu sehen, welcher Mangel an geschäftlichen Visionen die Idee Facebook ins Rutschen brachten. Ungeschicktes Hantieren mit den Erwartungen der Nutzer, plumpes Verleiten zum Bruch vertraulicher Datenverabredungen zeigten schlaglichtartig, dass offenbar wenig über die richtigen, verantwortungsbewussten Verfahrenstechniken nachgedacht wurde. Es ist so, als berühre die Welt der Nerds, der mega-erfolgreichen Nerds natürlich, die reale Welt der Zahlen und Daten, in der es um nachhaltige Planung geht, um Konsistenz des Handelns, dauerhafte Qualitätsversprechen im Austausch mit Märkten und Kunden. Sollte es etwa so sein, dass die ganze Social Media-Blase deshalb zu platzen droht, weil die Medien nicht sozial genug funktionieren, um funktionierende zielgruppen- und bedarfsgerechte Angebote zu schaffen? Klingt wie ein Treppenwitz, schließlich aber wie ein plausibler Treppenwitz. 
Der Fall Facebook scheint zu demonstrieren, wie wenig die gesamte digitale Welt, das Internet, die globalen unkontrollierbaren Netzwerke nur mit sich allein funktionieren. Schon das Thema Datensicherung und Zahlungsverkehr, wie profan das doch klingt angesichts der digitalen Heilsversprechen, erdet die Nerds und ihre Communities. Sogar ohne Bezug auf real existierende Mythen kommen die Cyberaktivisten nicht aus, wenn sie sich in ihrer Symbolik auf einen Attentäter beziehen, der seine Ziele noch mit Hilfe von Tonnen voller Schießpulver erreichen wollte, Guy Fawks. Nicht einmal dort, wo die Aktivisten zu Hause sind, im Netz, entstehen eigene Legenden, eigene Heldengeschichten. 
Wer sich die Mühe macht, einmal genauer hinzuschauen und die Nutzung der Medien kritisch zu hinterfragen, der stellt fest, dass es nicht nur das Internet und die sozialen Medien als Traumerfüllungsmaschinen gibt. Wieso wird eigentlich angesichts der neuen technischen Möglichkeiten alles andere, was uns durch jahrzehntelange Gewöhnung so vertraut ist, missachtet? Wird denn in den Casting-Shows des Fernsehens nicht viel mehr versprochen und noch sehr viel stärker suggeriert, dass das anstrengungslose Erreichen großer Ziele, dass die Belohnung von Wollen und Wünschen leicht zu erreichbar sei, wenn man nur bereit ist "Gas zu geben und alles dafür zu tun?" Ist die Suggestion der Modeindustrie, durch Textil und Kosmetik den eigenen Typ beliebig ändern zu können, durch das mitschwimmen im großen Strom der Vielen Teil einer alles bestimmenden gesellschaftlichen Kraft zu sein, nicht ebenso bedeutsame Einflusskraft auf unsere jungen Leute und ncht nur die? Ist das Sammeln von Erfahrung und Kompetenz, das Aneignen von Wissen und Fertigkeiten etwa nicht ins Hintertreffen geraten und als Schlüssel zu sozialem Aufstieg diskreditiert? Und was ist am Ende aus der Vorstellung sozialem Aufstieg geworden? 

Foto: pixelio.de/R. Sturm
Das soziale Kontinuum, das man Gesellschaft nennt 
Sozialer Aufstieg scheint heute die Versorgung mit materieller Sicherheit zu sein, die Ausstattung mit ausreichenden Mitteln, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Nicht mitgedacht wird die Konfrontation mit den Konventionen anderer gesellschaftlicher Kreise und Schichten, soziale Distinktion wird durch den Betrag auf dem Konto und die Statussymbole definiert, nicht etwa durch die Beherrschung sozialer Regeln, das Einweihen in andere soziale Mechanismen und den Wechsel des sozialen Standortes. Während die Wirklichkeit etwas anderes lehrt, wird die herrschende und die veröffentlichte Meinung anders getextet. Zusehends aber bricht der Widerspruch auf und sind mehr und mehr Menschen unzufrieden mit dem, was ihnen gesagt und versprochen wird und andererseits als Qualität und Service tatsächlich angeboten wird.

Das soziale Kontinuum, das man Gesellschaft nennt, ist nicht das grundsätzlich reaktionäre Zwangssystem voller Repression und Intoleranz, sondern das ordnende, zielweisende System sozialer Sicherheit und Gewissheit. Im Moment ist eine beginnende Diskussion zu registrieren, die von der Frage ausgeht, woher die Probleme im Miteinander kommen und wie die scheinbar unüberwindlichen Gräben zwischen den Generationen und Schichten zu überwinden sein können. Und das ist gut so. 
Wenn heute nun gern von digitaler Demenz gesprochen wird, die angeblich das Ergebnis von einem Übermaß an Konsum digitaler Angebote sei und uns alle dümmer mache, ist dies nur die halbe Wahrheit und so einfach, dass es einfach nicht stimmen kann. Der Begriff soziale Demenz scheint eher geeignet, einen Zustand zu beschreiben, der aus dem Zusammenspiel einiger Kräfte entstanden ist, die sich schon vor mehr als zwanzig Jahren zu bilden begannen. Die Probleme entstammen einem offenen Begriff von Erziehung und Bildung, einem zu offenen Begriff, dessen negative Auswirkungen durch die Mythen der Cyberpropagandisten verstärkt werden. Eine Erziehung zur Mündigkeit und Selbstbestimmung, die daran gipfelt, dass sich der Erziehungsberechtigte mehr und mehr der Erziehung entzieht und die Unterschiede zwischen den Generationen leugnet, verfehlt ihr Ziel, verkehrt sich am Ende in ihr Gegenteil. In solchen Zusammenhängen wird das Fernsehen, das Internet, der Sportverein und das Videospiel zu willkommenen Abstellplätzen für zunehmend verwahrlosende Kinder. Eine Erziehung zur Mündigkeit und Selbstbestimmung müsste die Kinderseelen mit Selbstbewusstsein und Empathie ausstatten, mit Vertrauen zu anderen Menschen und den Kompetenzen, sich die Welt selbst zu erschließen. Hieran aber mangelt es in den letzten Jahrzehnten zusehends. 

Digitale Demenz - Parole des Tages
http://www.swr.de/swr2/programm/kultur-aktuell/kulturgespraech/digitale-demenz-durch-digitalen-overload/-/id=9597128/nid=9597128/did=10133216/19jkty/index.html 

SWR2 Kulturgespräch 3.8.2012 Digitale Demenz durch medialen Overload


Digitale Demenz? Nein, auch, aber nicht nur. Wer dem Schlagwort der digitalen Demenz folgt, begünstigt ein schmalbrüstiges Problemszenario, das plausibel und lautstark scheint, jedoch eindeutig zu kurz greift. Die alte Frage nach dem, was zuerst da war, stellt sich auch hier. Greifen Menschen, gerade junge Menschen mit niedrigen Aufmerksamkeits- und Konzentrationswerten auf die erlebnissatten Videospiele und Abenteuer im Netz zurück? Wird derjenige, der über ein reichhaltiges Reservoir an Unterhaltungs- und Zerstreuungskompetenzen verfügt, der liest, musiziert, Sport treibt, ehrenamtlich tätig ist, der technisch interessiert ist, wird derjenige nicht das Internet als zusätzliches Angebot verstehen, das gelegentlich oder regelmäßig zum Zweck der Kontaktaufnahme dienlich ist?



Foto: pixelio.de/BirgitH
Überraschend ist die Beobachtung, dass keineswegs jeder Jugendliche dem Internet verfallen ist. Email-Kompetenz oder gar Anwendungswissen für Netzwerke und Software sind nach wie vor wenigen vorbehalten. Natürlich gibt es eine große Zahl von Menschen, die aus der Nutzung eine Sucht machen, aber deshalb ist die just erfundene digitale Demenz noch keine epidemisch auftretende Erkrankung. Die Diskussion darüber ist nicht nur ärgerlich, sondern auch ein Stück weit Sand in die Augen derer, die es aufgreifen, um damit ihre Weltsicht zu erklären. Er taugt nichts zur Erklärung und zum Verstehen unserer Problem, weder der gegenwärtigen noch der zukünftigen. Vielmehr reitet der Erfinder auf derselben Welle wie die Apologeten der digitalen Freiheit und beide kochen ihr eigenes Süppchen auf dieser kleinen Flamme. Ein gewisses Zittern hat die gesellschaftliche Diskussion ergriffen, und niemand scheint zu wissen, woher es kommt. Vielmehr wird gern einmal der Becher, aus dem wir unsere Weisheiten trinken, mit zitternder Hand verschüttet.


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