Sonntag, Juni 17, 2012

documenta 13 Kassel - Bereichert Euch!


Erste Vermutungen über eine Kunstausstellung
"Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?"
100 Tage, 1000 Fragen. Oder sind es Antworten, was wir auf der documenta zu sehen bekommen? Ist das Leitmotiv „Wiederaufbau und Zerstörung“ eine Fragestellung oder eine Antwort auf eine Frage? Und wenn es eine Frage ist, wie lautet sie? Könnte sie etwa lauten "Was ist die anthropologische Konstante der Menschheitsgeschichte?" oder "Wie heißt der grundlegende Antagonismus, der das menschliche Handeln durchzieht?" oder wäre es möglich zu fragen "Was ist die Voraussetzung für eine glückliche Entwicklung der Menschheit in der Zukunft?" „Wiederaufbau und Zerstörung“, eine Formulierung, die sich durchaus nicht als einzige mögliche Variante für die documenta aufdrängt, wäre eine jeweils denkbare Antwort, allerdings verteilt und repräsentiert durch knapp 200 Einzelkunstwerke völlig unterschiedlicher Provenienz, Gestaltung, Idee und Präsentation.


Knapp 200 Einzelantworten auf eine Frage? Oder verteilen sie sich am Ende auf 200 einzelne Fragen, deren Summe dann quasi die Antwort aller Antworten auf die eine Frage nach dem Universum? Nicht 42, sondern „Wiederaufbau und Zerstörung?“ Macht Sinn, klingt plausibel. Und ist so universell einsetzbar wie die Antwort 42. Nur spricht niemand davon, dass es bei der documenta um das Auffinden der Weltformel ginge. Kunst, Kunsttreiben, Kunstgeschäft entzieht sich mit Erfolg der Festlegung auf einen Sinn, das Leben und die Welt sind so vielschichtig, so vieldeutig wie die Geschichte, die sich ereignet und vergeht, wie die Menschen, die sie gestalten wollen und scheitern oder siegen, wie die Gegebenheiten in den Winkeln der Erde, heiß oder kalt, Nord oder Süd.

Also doch nicht die eine Antwort auf die eine Frage? Vielleicht ist jedes Kunstwerk eine Frage? Und weil es organisatorisch anders nicht zu bewerkstelligen ist, können es halt nur eine Auswahl von knapp 200 Fragen sein? Bleibt noch die Frage, wer die Fragen stellt, beziehungsweise gestellt hat? Die Künstler? Läge nahe. Oder war es am Ende doch die Kuratorin? Ist es also doch am Ende alles Menschen-gemacht, gar anthropozentrisch, nur mal eben der Leistung eines Menschen entsprungen? Ist die documenta als Ganzes deshalb selbst ein großes Gesamtkunstwerk, das sich gar nicht oder nur unvollkommen in seine Einzelteile zerlegen lässt?

Auf der Suche nach der Frage?
Wie also kann man dann der gesamten Darbietung nahe kommen, wenn man die Einzelteile (noch) nicht gewichten kann in ihrer Leistung und Bedeutung für das große Ganze? Was ist denn am Ende die Leistung des Ganzen? Was ist denn nun die Antwort auf die Ausgangsfrage?
Es wäre verwegen, den Korbinian-Apfelbaum in der Karlsaue einerseits zu übersehen, andererseits in seiner Wechselbeziehung zu anderen Werken überzubewerten. "Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?" fragte sich einmal Gottfried Benn in einem Gedicht. Luther hatte doch einen Tag vor dem Ende der Welt einen Apfelbaum pflanzen wollen. Symbol der Hoffnung, des Gottvertrauens? Auf jeden Fall ein Beispiel für eine Variante des hiatus irrationalis, des Sprunges der Unvernunft, den der religiöse Glaube den Rationalisten bedeutete. Hiatus irrationalis aber auch in Bezug auf die Kraft der Hoffnung und der Lebensbejahung, die in dem symbolischen Akt der Baumpflanzung liegt. Der Zusammenhang mit der Geschichte des sogenannten "Apfelpfarrers" Korbinian Aigner, der im KZ Dachau neue Apfelsorten züchtete und damit dem Entsetzen der Massenvernichtung durch die Nazis ein irrationales Zeichen des Widerstandes und der Hoffnung entgegen setzte, hat ein Moment der moralischen, humanen Schönheit auf seiner Seite.

Grotesk und schön
Eine Schönheit, die sich in den in Stein gehauenen Büchern aus dem 1941 bombardierten Fridericianum, fast völlig vernichtet, wiederfindet. Eine Hoffnung, die an ihr Ende zu gelangen scheint, weil es kein danach mehr zu geben schien. Ebenso die Splitter der von den Taliban zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan. Das Bombardement Kassels 1941 und die Sprengung der Statuen sind für sich, als Symbol der Gewalt gegen Sachen, die auch gegen die Menschen wirkt, Ergebnisse des selben anti-humanen, anti-zivilisatorischen Sinnes. Dagegen den zarten  Apfelbaum zu stellen, wirkt ebenso grotesk wie schön in seiner Vergeblichkeit.
Und doch kommt hier das Perpetuum mobile der Weltgeschichte in Gang, der Wiederaufbau nach der Zerstörung, die Zerstörung nach dem Wiederaufbau. Und die Kunst?

Kollateralschäden der Geschichte
Die Kunst spiegelt diesen Prozess, sie heilt ihn nicht. Die Kunst begutachtet die Kollateralschäden der Stürme der Geschichte, sie ist bei den Opfern und den Tätern, sie stiftet Hoffnung und hofft selbst darauf, aus der Guckkasten-Perspektive herausfinden zu können.Dies wird beim Gang über die documenta auch deutlich: Dort, wo konkrete Lösungen angedacht und umgesetzt werden, spielt die Kunst keine Rolle. Die Physik etwa hat im 20. Jahrhundert die schlimmste Bedrohung der Menschheit geschaffen, die Atombombe, und versorgt gleichzeitig den Planeten mit der Energie, die eine endlos wachsende Menschheit benötigt, um sich am Leben zu erhalten. Wenn die Quantenphysik in der documenta auftaucht, dann ist sie ganz bei sich selbst und in keiner Weise künstlerisch verfremdet. Nur befremdlich außerhalb ihres angestammten Wirkungskreises der akademischen Forschung.
Von Kabul nach Kassel...

In Afghanistan zum Beispiel kann die Kunst nur resümieren und nach den Zerstörungen darüber reflektieren, was den Menschen hier angetan wurde und wie vergeblich die Hoffnung der Menschen auf eine glückliche Wendung doch zu sein scheint. Diese Kunst kann nicht schön sein. Sie kann nur schonungslos sein und darf niemanden, auch ihren Betrachter nicht, auslassen. Der reale Galgen, das heißt die Technik des Erhängens als gängige Praxis, verurteilte Delinquenten vom Leben zum Tode zu befördern, auch wenn sie Saddam Hussein heißen, ist auch mächtiger als das Kunstwerk, das den Galgen imitiert, ihn simuliert und an die Unsitte der Todesstrafe erinnert. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Kritik an der Todesstrafe, auch wenn sie während einer documenta Öffentlichkeits wirksam geübt wird, solange wirkungslos bleiben wird, solange sie nur künstlerisch, mit den Mitteln des Künstlers geübt wird. So real, so hart und grausam das Bauwerk des Galgens ist, so eingewoben in andere Bedingungen, in andere Wirkungsgrade ist die Kunst. Und damit stellt sie sich selbst in Frage. Ihre schiere Existenz jedoch ist dann schon wieder Beweis dafür, dass die Künstler von Anfang wissen, wie ihre Antwort auf die Frage der Relevanz von Kunst im 21. Jahrhundert aussehen wird. Nämlich so, wie das, was sie in Kassel zeigen.

Nach der Vertreibung aus der Paradies
Das Paradies in der Aue
Vieles andere, was dort zu sehen ist, belegt dann wieder das andere Extrem der Sinnzuweisung von Kunst. Der Erdhügel vor der Orangerie etwa scheint zunächst vollig selbstreferentiell mit sich selbst zu tun zu haben. Obendrein lautet sein Name to do nothing-Garden. Dabei weiß der Gärtner, dass gerade dies ein Widerspruch in sich ist. Das Paradies, dem der wild bewachsene Hügel vielleicht nahe kommt, wäre ohne eine ordnende Hand, das Gegenteil des to do nothing, gar nicht denkbar. Wenn die Kultur sich im Austausch mit der Natur zurückzieht, verliert die Natur an Funktionalität für den Menschen. Eine sich selbst überlassene Natur kann auf den Menschen vortrefflich verzichten, der für sich selbst verantwortliche Mensch jedoch braucht die kultivierte Natur zum Überleben. Das heißt jedoch, dass die Natur keineswegs durch die Arbeit des Menschen etwas anderes wird als Natur. Der kultivierte Zustand muss ständig verteidigt werden, weil die Natur den Menschen als Herrscher nicht akzeptiert.

So deutlich wie noch nie hat diese documenta eine deutliche erzählerische, quasi epische Dimension. Diese Erzählung ist abhängig von der Perspektive des Erzählers, seinem Erfahrungshintergrund, seinem Wissen und seinem analytischen Vermögen, sich die Welt erzählerisch zu erschließen. Von Wahrheit ist dabei überhaupt keine Rede.  Es geht um die Orientierung in der Welt, die Kommunikation mit Menschen, den Dingen und den Gegebenheiten. Diese Erzählung ist wie ein Programm einer großen Kunstausstellung etwas völlig eigenes, etwas ganz und gar nicht-künstlerisches oder -kunstvolles. Zumindest nicht immer, vielleicht in ihren besten, ihren stärksten und schönsten Momenten beziehungsweise Absätzen. Diese Erfahrung bestätigt die documenta ebenfalls: Es gibt keine verbindliche Erkenntnis, es gibt keine kanonische Instanz, die uns die Welt erklärt.

Baum der Erkenntnis?
Der Baum der Erkenntnis blüht auf der documenta nicht, er steht kalt und tot in der Karlsaue herum und beteuert noch seine ehemalige Bedeutung, tragbarer keine Früchte mehr, so dass eine Pilgerfahrt zu ihm völlig sinnlos wäre. Bei der Vertreibung aus dem Paradies, zu deren schlimmen Konsequenzen ja auch der Verlust des Austausches mit dem höchsten Wesen mit all seiner Vernunft gehörte, sind die Früchte des Baumes, auf dem die Schlange einst hauste und Eva verführte, verdorrt und zu Stein geworden. Inmitten der blühenden Landschaft der Kasseler Karlsaue macht der verdorrte Baum der Erkenntnis eine doppelte traurige Figur. Ist er doch obendrein der Beweis dafür, dass Erkenntnisse und Wissen über das Leben und die Welt , nicht mehr zu haben sind. Oder zumindest nur dann, wenn der Mensch sich der Kultivierung der dürren Äcker, der ausgedörrten Ländereien widmet. Nur ist der Ertrag zweifelhaft.

Denn die Geschichte des Menschen seit der Vertreibung aus dem Paradies hat gezeigt, dass seine schöpferische kraft immer wieder die Katastrophe heraufbeschwort, immer wieder von Neuem beginnen muss. Und die documenta 13 im Jahre des Herrn 2012 ist ein lebendiger,kraftvoller Beweis dafür. Aber auch wenn sie auf fast jede Form de Agitation verzichtet und keine alarmistische Parole hinausposaunt, wird klar, dass der Mensch sich behaupten muss. Behaupten muss im gesamten Universum, das ihn umgibt, und gegenüber sich selbst. Der Spezies, die bereit und in der Lage ist, sich selbst auszulöschen. Dann aber ist kein Wiederaufbau mehr möglich, nach der endgültigen Zerstörung wird auf der Welt das Schweigen herrschen oder die Kakophonie des Chaos. Die documenta ist kein leichter Konsumhappen für den Sonntagnachmittagsausflug, sie hart, wo sie schön ist, und sie ist vielsprachig, wo sie schweigt. Enrichissez-vous, bereichert Euch!

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