Dienstag, Juni 19, 2012

Der Blick in den SPIEGEL


Fast schon eine Hommage, aber kritisch dabei

Foto: K. Scherer/pixelio.de
Viele Dinge geschehen nur einmal in der Woche. Die neueste Folge der Lieblingsfernsehserie , die Sportschau am Samstag und, selbstverständlich, der SPIEGEL am Montag. Der SPIEGEL? DER SPIEGEL? Der SPIEGEL, der vor Jahren noch zur Grundausstattung des akademisch gebildeten, entscheidungsstarken, aufstiegsorientierten, gutverdienenden Mannes in den guten Jahren gehörte? Der Woche für Woche die Republik mit Meinung versorgte und mit seinen Rechercheuren so gut wie hinter jeder Straßenecke in Bonn oder Berlin gestanden hatte, um die neuesten Schandtaten der Mächtigen zu enthüllen? Dessen Herausgeber einst sogar für eine Story in den Knast ging und am Ende damit einen leibhaftigen Minister stürzte? Ja ja, dieser SPIEGEL ist gemeint. Die alten Zeiten sind vorbei. Der SPIEGEL ist in die Jahre gekommen, sein charismatischer Herausgeber gestorben, die alte Garde der Schreiber und Aufklärer längst im Ruhestand, die Nachkriegsgeneration längst vergessen. 

Heute haben in der Redaktion die emanzipierten, problembewussten Baby Boomer ihre Positionen eingenommen, die smarten Henri-Nannen-Schulen-Absolventen, die windschnittigen, wortgewandten journalistischen High Potentials, die ihre Wettbewerber im Weltmaßstab suchen, nicht national. Diese Damen und Herren haben es immer noch leicht, sich im Meer der publizistischen Selbstversuche zu behaupten. Nicht jeder Ansatz ist deshalb gleich immer noch brillant, nicht jede Story von bebender Notwendigkeit, nicht jedes Essay von bahnbrechender Bedeutung, dennoch aber gibt es auch im Jahre 2012 kein Medium, das dem guten alten SPIEGEL das journalistische Wasser reichen könnte. Mag sein, dass dies nicht unbedingt ein Qualitätskriterium des SPIEGELs ist, sondern eher das Eingeständnis der Schwäche der anderen Blätter und Titel, die es nicht schaffen, dem Hang zum Boulevard und Illustriertenhaften aus dem Wege zu gehen.


Kompetenz des Journalisten
Der SPIEGEL- und diese Beobachtung gilt natürlich für alle anderen Wochenmagazine und Tageszeitungen gleichermaßen - hat als meinungsbildendes Medium schon deshalb verloren, weil es im digitalen Zeitalter einen immer mehr anschwellenden Austausch der Menschen via Internet gibt, der sogenannte Schwarm sorgt für Verbreitung und Kommentierung vieler Nachrichten, Blogs und Twitter sorgen zeitnah für authentischen Lesestoff aus den Zentren des Geschehens. Der Wettbewerbsvorteil der Nähe und der Zugänge zu Informationen ist den Medien genommen. Bleibt einzig und allein noch die Kompetenz des Journalisten, der mit seinem Urteils- und Analysevermögen weiter gehen kann, als nur Nachrichten zu verbreiten oder Informationen anzubieten. Aber auch das wird zunehmend schwerer. Es gehört bereits zum guten Ton der vollständigen Recherche, in einschlägigen Blogs nach den neuesten Trends der Meinungsbildung zu forschen und aus ihnen das plausibelste Substrat von Vermutung über den Zustand unserer Welt zu ziehen. 

Der Bruderkampf zwischen der klassischen Printausgabe und dem erfolgreichen Online-Ableger des SPIEGEL, belegt das sehr anschaulich. Künftig wird der Kampf um Marktanteile und Wertschöpfung auch im Medienmarkt noch härter werden und möglicherweise mit einem Kulturbruch enden, dann nämlich, wenn das Ende der klassischen Printpresse eingeläutet werden wird. Und unter Fachleuten geht es in der Diskussion nicht mehr darum, ob es so kommen wird, sondern nur wann. Ändert sich etwas für den Leser? Im schlechten Fall ja, weil möglicherweise eine Art Twitter-Journalismus erfunden werden wird, der sich ganz und gar von den Traditionen des alten Print-Journalismus lösen wird. Im besseren Fall wird man soviele Qualitätskriterien übernehmen, dass tatsächlich ein Online-Journalismus praktiziert wird, der denselben ethischen Standards und denselben professionellen Qualitätsansprüchen genügen will. Was der Leser dann will, wie er sich zwischen diesen beiden Extremen entscheidet, das ist noch lange nicht ausgemacht.

Qualitätsmedien und ihre Zukunft
Professionelle Pessimisten bleiben bei der Beantwortung dieser Frage eher kritisch. Bestimmte Entwicklungen im heutigen Print der Lokal- und Anzeigenblätter sowie des privaten Fernsehens und Rundfunks scheinen jedoch darauf hinzudeuten, dass der Leser und Zuschauer der Zukunft gerade jetzt, in diesem Augenblick, entsprechend oberflächlich und anspruchslos sozialisiert wird, so dass von entsprechenden Anforderungen an künftige Qualitätsprodukte keine Rede mehr sein kann. Die Welt der nationalen Qualitätsmedien verschleiert momentan noch den Ausblick auf diese Entwicklung und an den Diskussionen daran nehmen ohnehin nur Verlagsprofis, Medienwissenschaftler und ein paar Journalisten teil. Das Schisma in Qualitäts- und in Kommerzmedien existiert ja bereits heute und ist als unveränderliches Faktum nicht mehr wegzuplanen. Und behaupte bitte keiner, die BILD-Zeitung sei verantwortlich für dies Entwicklung, sie ist es natürlich nicht, auf ihre besondere Weise ist sie eher eine der Gralshüter, auch wenn das nicht sehr überzeugend klingt, weil im politischen Schlagabtausch die BILD immer noch der schmuddelige Underdog sein soll.

Ebenso wenig haben neue Titel der letzten zwanzig Jahre, so es sie überhaupt noch am Markt gibt, für eine Trendwende gesorgt. Weder die taz noch der Freitag haben es vermocht, die Standards aus ihren Nischen heraus zu verändern. Alle Titel sind gleichermaßen mit dem Überlebenskampf am Markt derart beschäftigt, dass der Anspruch, innovativen, zeitgemäßen Journalismus machen zu wollen, gern hinten herunterfällt. Zumal weil man ja zunächst vor allem inhaltlich arbeiten möchte, weil man den bisher offenbar zu kurz gekommenen Meinungen und Meinungsträgern eine Stimme verleihen möchte. Also eine eher politische Stoßrichtung, keine publizistisch-handwerkliche. Wenn es an den Kampf um Käufer und Leser geht, entscheiden eine Vielzahl von Kriterien über Erfolg und Misserfolg. Nicht aber allein die politische Präferenz eines Blattes. Die taz hat in ihren besseren Zeiten die nötige wirtschaftlich kritische Masse hinter sich und kann sich immer noch knapp halten. Der Freitag dürfte um seinen Marktanteil heftig kämpfen. Das Cross over-Konzept und eine stärker an der Struktur der Community orientierte Blattphilosophie garantiert noch keine exorbitanten Auflagenzahlen. 

Philosophie und die Liebe zum Land
Dass der Leser relativ wenig aufgestöbert werden möchte, zeigt ein sehr erfolgreicher Trend im Zeitschriftengeschäft, wo die Magazine rund um das neu entdeckte Landleben reüssieren. Es dürften mittlerweile um die fünf Titel sein, die das erfolgreiche Ursprungskonzept kopieren und fortführen. Die Leute akzeptieren es und kaufen. Man kann den Leser/ Käufer nun beschimpfen und ihm seine demokratische, staatsbürgerliche Inkompetenz und seinen Eskapismus zum Vorwurf machen. Es ändert nur nichts an den Fakten. Wobei noch nicht erwiesen ist, ob diese Titel die Masse der Leser tatsächlich dümmer oder nicht doch eher glücklicher machen. Je nach Missionierungsgrad des Kritikers mag ein jeder sich diese Frage nach Gutdünken beantworten. 

Die Produktion eines Philosophie-Magazins wiederum scheint so verwegen und wenig erfolgversprechend, dass man vor dem Mut der Herausgeber der neuen Titel nur den Hut ziehen kann. Es wird sich zeigen müssen, ob sie sich etablieren können und lange erfolgreich sein werden. Zu wünschen wäre es sicher. 

Und unser SPIEGEL? Der treibt sein Geschäft voran. Entwickelt Spin-Off-Ideen, kreiert neue Rubriken, eröffnet neue Geschäftsfelder und treibt die Entwicklung des Medienmarktes tatkräftig voran. Bei der Lektüre der aktuellen Ausgabe vom 18. Juni 2012 allerdings wird schnell klar, warum man eines Tages das herzwärmende, ehemalige Sturmgeschütz der Demokratie vermissen wird. Die Redaktionskonferenzen muss man sich wohl wie eine turbulente Klassenfahrt vorstellen, auf der mit Haken und Ösen, Tricks und Fallen um die besten Plätze gestritten wird. Ob die Republik oder ihre Entscheider, die kauf- und entscheidungsstarken Leser, sich tatsächlich vor dieser Konferenz fürchten müssen, wie der Slogan des Verlags vermutet, sei mal dahingestellt. Gemessen an ihren Ergebnissen, beziehungsweise an den gedruckten Ergebnissen liegt dies Vermutung allerdings nicht allzu nah. Sei's drum.

Ein Blick in den SPIEGEL
Der SPIEGEL vom 18.6. beginnt denn auch gleich mit einer großen Geschichte, wie sie den großen Jungen, die sich hinter dem Blatt verbergen, sicher gefallen dürfte. Dort wird die herzergreifende Geschichte eines ehrgeizigen Gefolgsmannes der Kanzlerin, des Chefs des Bundeskanzleramtes, geschildert, der sich scheinbar heillos in den Themen der gegenwartigen Regierungspolitik verheddert zu haben scheint. Gespickt mit internen Quellen, allerlei ungenannten Experten, vielen vertraulichen Zitaten von Bekannten und Vertrauten. Hier wird die ewig junge Geschichte eines Karrieristen erzählt, der seinen eigenen hohen Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht wird und womöglich an dieser mangelnden Selbsteinschätzung scheitert. Fallhöhe hat diese Geschichte, da auch die Kanzlerin ein paar mal durchs redaktionelle Bild läuft und zitiert wird. 

Eine ganz ähnliche Geschichte wird im Zusammenhang der aktuellen fünf Talker der ARD berichtet. Ein internes Gutachten der ARD , des Programmbeirates, übt heftige Kritik an der Qualität der Talker und ihrer journalistischen Befähigung. Hier wird dem Affen wieder ordentlich Futter gegeben, es wird mit Häme nicht gespart und ausführlich aus dem Papier zitiert. 

Aus der Welt des Königs Fußball streut die Redaktion Beobachtungen vom Spielfeldrand ein, die den Fans am Stammtisch sicher etwas bedeuten werden, die also auch unterhalterische Akzente setzen. Zu wesentlichen Teilen aber erhält die Strecke das folkloristische Staunen des Lesers über sich selbst am leben. In der bekannten Attitüde des allwissenden Volksvertreters und -erklärers changieren die Berichterstatter letztlich zwischen Hof- und Hintergrundberichterstattung. Dabei wird die Klaviatur der gängigen sportkritischen Themen routiniert heruntergespielt: Methoden der Über-Kommerzialisierung, Provinzialität der Funktionäre, mangelnde Weltläufigkeit der Sportler, zickige Berufsblondinen als Spielerfrauen. 

Aus den Tiefen der Geschichte und der Geheimdienste wird von der Kooperation der PLO mit deutschen Neonazis bei der Vorbereitung des Anschlages auf die olympischen Spiele 1972 berichtet. Ein vertrautes Sujet, terroristische und nachrichtendienstliche Plots sind traditionell gepflegter Lesestoff des SPIEGEL. Die ungewöhnliche Melange zwischen PLO und Nazis tut ihr exotisches Übriges. 

Der ehemalige Skandalkünstler Jeff Koons, immer noch mega-erfolgreich und wahnsinnig provokant, präsentiert sich in Frankfurt. Offen bleibt, welche Bedeutung er für die zeitgenössische Kunst noch hat, angesichts der Tatsache, dass zeitgleich in Kassel die documenta und in Basel die Art veranstaltet werden. 
Ein Hauch von Bildungskatastrophe beim geplanten bundesweiten Zentralabitur, die Geschichte eines nordkoreanischen Flüchtlings, der schlimmste Folter erdulden musste, ein Interview mit David Barenboim über des SPIEGELs wohl meist zitierten deutschen Komponisten, Richard Wagner und nicht zuletzt ein wahrhaft analytischer Essay über prügelnde Politiker und die Aussagekraft ihres Vorkommens über die Gesellschaft, der sie angehören, runden im Wesentlichen das Thementableau ab. Kurzum, für jeden Geschmack scheint etwas dabei. Der geübte Spiegel-Leser wird in seinen Erwartungen bedient und trifft eine Reihe von alten Bekannten wieder. Vor allem sich selbst als kundigem, erfahrenen Leser.

Was der SPIEGEL dabei schafft, ist, dem verunsicherten, vielleicht sogar beunruhigten Leser, der am Flughaen oder Bahnhof die neue Ausgabe kauft oder der gerade aus der rauen Wirklichkeit heimkehrt und sich der Feierabendlektüre der neuen Ausgabe widmen möchte, ein hohes Maß an Insiderinformationen zu geben, ihn von seinem sicheren Sitz unter der Stehlampe im Wohnzimmer, ob Ikea oder Rolf Benz, mitzunehmen in die Welt der Mächtigen, die am Ende ganz und gar menschlich, fast wie du und ich erscheinen, in die Welt der Schönen und Reichen mitzunehmen. Diese Welt ist der andere Teil unserer Welt, die wir natürlich nie betreten werden, von der wir - dank des SPIEGEL- aber beste Insidereinsichten besitzen. Diese Welt bietet allerhand Tand und Gedöns, was zum Lauf der Dinge halt so gehört, aber sie bietet auch unheimliche Tiefen, Geheimnisse und Verschwörungen, deren Rätsel nie ganz gelöst werden können, deren Protagonisten nie so ganz enträtselt werden. So friedlich eingehüllt in den wechselvollen Zügen der Geschichte und der Gegenwart wird dem erschöpften Leser schließlich auch noch das ein oder andere Teil an Entspannung und gehobenem Amüsement gereicht, das hilft, den Tag gut abzuschließen.

Das ultimative Männermagazin
Der SPIEGEL, zumindest der, ist mehr als nur ein Zielgruppenblatt mit der Lizenz zur Volksaufklärung, er ist mehr ein Kompass in den Wirren der Zeit und ein verlässlicher Partner angesichts der wechselnden Mehrheiten, der wichtigen Menschen, die kommen und gehen, der undurchsichtigen Machenschaften um uns herum und der trotz allem bleibenden quälenden Ungewissheit angesichts der Fragen der Zukunft. Der SPIEGEL ist ein Papier gewordenes "Trotz alledem!", ein trotziger Leugner der offensichtlichen Vergeblichkeit angesichts all des Mittelmaßes und Unvermögens, das uns umgibt und über uns herrscht und von dem er doch so beredt berichtet.

Wäre der SPIEGEL eine einzige Person, dann hätte diese Person etwas von der Lakonie von Sam Spade oder Philip Marlowe, sie hätte den Humor von Woody Allen, die wortkarge Selbstgewissheit einer Figur von Clint Eastwood und die melancholische Lebensklugheit eines Hans Magnus Enzensbergers. Will sagen, eigentlich ist der SPIEGEL das einzige und wahre Männermagazin und vor allem: Dazu braucht er kein Mädchen auf Seite drei. Genießen wir also jeden Montag, solange es noch geht. Und wenn es dann eines Tages mit ihm zu Ende geht, dann wollen wir ihn, um eine Sentenz des Online-Kolumnisten Jan Fleischhauer zu zitieren, es mit einem ordentlichen Drink in der Hand gebührend verabschieden.

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