Freitag, Juli 06, 2012

Ich weiß, dass ich nichts weiß?


"Dass wir nichts wissen können." "Na und, Herr Faust?"
Vermutungen über den Sinn des Nicht-Wissens und seine folgenlosen Folgen 
Zu den einfachsten und doch so schwierig zu beantwortenden Fragen, die man einem Menschen stellen kann, zählt gewiss "Was weißt du alles nicht?" In einer Zeit, da alles daran gesetzt wird, auf jede nur erdenkliche Art und Weise, Wissen anzuhäufen und Wissensvermittlung zu organisieren, in einer Zeit, die dem Nicht-Wissen geradezu den Kampf angesagt zu haben scheint, in dieser Zeit liegt nichts weiter vom Mainstream der gesellschaftlichen Gemeinplätze entfernt, als eben jene Frage. 

Unendlicher Strom der Wissenssammlung 
Wissen ist eine humane Ressource, wie es scheint, wir alle stehen in einem unendlichen Strom der Wissenssammlung und Wissensweitergabe, Wissen, das geeignet erscheint, unsere Welt völlig neu zu gestalten und jedem von uns völlig neue Lebensperspektiven zu ermöglichen. Einer Welt also, in der Wissen das Fundament, die Grenzen und das weitere Ziel ist, ist die gegenteilige Frage ein Tabu, ein Sakrileg, weil sie geeignet erscheint, das Rad des Wissens zum Halten zu bringen und das große Ziel am Horizont verschwinden zu lassen. Und doch ist das Nicht-Wissen, soviel weiß man dann ja doch oder zumindest kann sich gelegentlich der eine oder andere daran erinnern, das Nicht-Wissen ist konstitutiv für die Aufklärung gewesen, die ja der „Ausweg des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit sein sollte." So war zumindest der Plan, am Anfang. Damals hatte man das Gegenteil von Aufklärung, des aufgeklärten Bürgers und Menschen noch direkt vor Augen und wusste, wer mit solchen Sentenzen gemeint war. 

Heute, 250 Jahre später und inmitten einer technischen Entwicklung, die es uns ermöglicht, fast an jedem Punkt der Erde auf die riesigen Datenbestände des Internets zugreifen zu können, sieht es anders aus. Die Beweglichkeit des Wissensmaterials hat den Eindruck entstehen, dass die Kapazität des Menschen, mit diesem Material auf eine intelligente Art umgehen zu können, proportional gewachsen sei. Doch hier unterliegt der Betrachter der Suggestion des zu betrachtenden Kulturgutes. Die Wissenschaft hat, so stand zu lesen, eine eigene Disziplin entwickelt, die sich mit dem Nicht-Wissen beschäftigt, die Agnotologie. Allerdings hat diese Entwicklung einen kleinen, aber entscheidenden Geburtsmakel: Sie befasst sich in der Hauptsache mit solchen Themen wie dem, wie man das Nicht-Wissen und seine Bedingungen des Entstehens erkennen und in den Prozess des Wissens und der Auswahl des Wissenswertens einbinden kann. Also geht es im Grunde wieder nicht um das Nicht-Wissen als eigenes Phänomen mit dem Anspruch auf Dauer und Verstehen, sondern es ist quasi nur die Vorstufe des Wissens, die Vorhölle, in der all die Unbegabten und Antriebslosen schmoren. Am Ende aber, so die wissenschaftliche Utopie, steht das Reich des Wissens und der Wissenskundigen. Eine uralte Utopie, die sich wieder erfindet, zum Nutzen derer, die im Besitz von Wissen sind.

Wer soll entscheiden? 
So bleibt also die Frage, was Nicht-Wissen eigentlich ist und wie es sich zum Beispiel gesellschaftlich zeigt, noch unbeantwortet, da sie zu denen gehört, die am Ende nicht zu dem angestrebten Ergebnis der Wissenschaft führt, wissen zu mehren und zu verbreiten. Es ist natürlich erkenntnistheoretisch eine hohe Hürde zu nehmen: Wer, wenn nicht der Wissende, soll denn darüber entscheiden, wer wissend und wer nicht-wissend ist? Muss ich nicht erst etwas wissen, möglichst viel, möglichst alles wissen, um erkennen zu können, wer sich von mir mittels Nicht-Wissen signifikant unterscheidet? Und ist dieses Interesse nicht ausschließlich beim Wissenden anzutreffen? Da der Nicht-Wissende nichts weiß, oder zu wenig oder auch gelegentlich einmal das Falsche, kann er sich selbst nicht als Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin begreifen. Er kommt als Nicht-Wissender also in seinem eigenen Universum gar nicht vor. Statt dessen teilt er möglicherweise die Überzeugung mit dem Wissenden, ein Wissender zu sein, da ja die Option, selbst nichts zu wissen, in seinem Gedankengebäude nicht existent ist. 


Man muss sich vorstellen, dass der Nicht-Wissende ja nicht völlig ahnungslos ist und als völlig ungelenker Idiot durch die Welt stapft, dabei nur Verheerungen anrichtet und auf Hilfe angewiesen ist. Vielmehr ist eine Frage der Quantität des Gewussten sowie der Qualität des Gewussten, des Erinnerten und des Angewandten. Wer je einen Busfahrer bei der Arbeit gesehen hat, wer je mit einem Politiker gesprochen hat, oder wer jemals wissen wollte, warum er krank wurde und ein anderer nicht, der ahnt, dass es eine unendliche Palette von Erscheinungsformen des Nicht-Wissens gibt, das nichts von sich selber weiß. Der Wissende weiß, dass er etwas weiß. Der Nicht-Wissende weiß nicht, dass er nichts weiß. So ist also in der Kommunikation mit beiden nicht zu erwarten, dass der Nicht-Wissende sich je als Nicht-Wissender zu erkennen gibt. Er kann es nicht, weil er nicht über die Fähigkeit verfügt, diese Feststellung zu treffen. Zwar kann er sich selbst als Individuum erkennen und sich nach sozialen Regeln verhalten sowie den Normen der Alltagsrationalität genügen, nie aber wird er in der Lage sein, mittels Selbstreflexion und Introspektion zu diesem Schluss zu kommen.

Dieser bleibt also als logische Folgerung aus Beobachtungen, Kommunikation und Interaktion dem Wissenden vorbehalten. Dem bleibt allerdings auch der Weg versperrt, durch Befragung dem Phänomen des Nicht -Wissens auf die Spur zu kommen. Der Nicht-Wissende kann schlicht darüber keine Auskunft geben, weil er es nicht weiß und weil er nicht in der Lage ist, diesen Gedanken zu denken. So erklärt es sich schließlich, dass es so wenig bekennende Nicht-Wisser gibt. Sokrates war ein intellektueller Trickbetrüger, der sich unwissend stellte, um die anderen vorgeblichen Wissenden in erkenntnisreiche Gespräche zu verstricken. Faust war Magister und Doktor gar, der an der Unmöglichkeit verzweifelte, alles zu wissen und schließlich gar auch zu verstehen. Von Einstein ist das Zitat überliefert „Wenn die Menschen nur über das sprächen, was sie begreifen, dann würde es sehr still auf der Welt sein." Es liegt die Vermutung nahe, dass Einstein zumindest ahnte, was in den Köpfen seiner Zeitgenossen vor sich ging.
Wenn doch aber das Nicht-Wissen so weit verbreitet und ebenso schwer zu lokalisieren ist, wie kann es dann sein, dass sich die Menschheit noch immer nicht selbst vernichtet hat? Gute Frage, stimmt so. Aber wer sagt denn, dass die Menschheit selbst dazu bisher noch nicht in der Lage war, mangels Wissen? Und wer möchte bestreiten, dass sich die Menschheit in jeder Epoche der Geschichte redlich Mühe gegeben hat, an diesem historischen Großprojekt zu arbeiten? Die Tatsache, dass die Welt und mit ihr die Menschen noch existieren, beweist also nicht, dass es genügend Wissende auf der Welt gibt. Vielmehr scheint es plausibel anzunehmen, dass der gegenwärtige Status des Planeten Erde nur dem Umstand zu verdanken ist, dass der rote Knopf, mit dessen Hilfe die Erde gesprengt werden könnte, nur noch nicht gefunden wurde. 

Gehen wir einmal von der Grundthese aus, dass all das, was die Erde bisher dem Menschen untertan gemacht hat, von Wissenden entwickelt und erfunden wurde, dann versteht man auch, dass diese Dinge irgendwie funktionieren. Und man versteht auch, dass es eine Anzahl Nicht-Wissender geben muss, die regelmäßig dafür sorgen, dass Störungen entstehen, dass Dinge zerstört werden und Erkenntnisse nicht in die Tat umgesetzt werden.

Nun kommt nach dem bis hierhin Gesagten hinzu, dass die Feststellung, ob irgendwo ein Nicht-Wissender am Werk ist, nur a posteriori zu treffen ist. Wenn also das Kind in den Brunnen gefallen ist, weiß man, dass es entweder selbst, seine Aufsichtsperson, der Brunnenbaumeister oder das Sicherheitspersonal nicht wusste, was zu tun war und deshalb zum Beispiel auch nicht vorausschauend denken konnte. Erst im Nachhinein ergibt sich die Einsicht, was man hätte wissen sollen und womöglich auch hätte wissen sollen. Im Vorhinein jedoch bestand diese Möglichkeit nicht, da man nicht wissen konnte, was geschehen würde, so dass man völlig außerstande war, sich auf eine solche Situation einzustellen. Hinweise, die gegeben wurden, konnten ja unter Umständen von Nicht-Wissern gegeben worden sein oder Nicht-Wissern mitgeteilt, so dass entweder das Misstrauen oder das mangelnde Verständnis ein angemessenes Verhalten verhinderten. 

Der Wissende weiß also, dass sich die Welt, das Leben und alles Weitere immer erst sehr spät, und dann meist ungefragt, dem Wissenden, dem Suchenden offenbaren. Alles, was wir über die Zukunft wissen, ist Spekulation, unser Wissen über die Vergangenheit unvollständig und eventuell in den falschen Händen, sprich höchst unzuverlässig, sehr volatil. Und in der Gegenwart, das leuchtet ein, kann man ohnehin nichts tun, um einen Zustand, der noch gar nicht eingetreten ist, so oder so zu beeinflussen. Das ist logisch unmöglich. Deshalb ist das, was uns die Zukunft bringt, also, wenn man so will, die zukünftige Gegenwart, erst dann relevant, wenn die Zukunft als Gegenwart bei uns angekommen ist. Und dann leben wir in ihr als Ergebnis der Vergangenheit, die ja nachträglich erst recht nicht zu ändern ist, so dass wir gezwungen sind, in unserer Gegenwart das zu tun, was wir eben in diesem Moment für richtig befinden. Dies ist das Problem der gegenwärtigen Ausschließlichkeit, wie es eine Theorie des Nicht-Wissens in Zukunft einmal nennen und als Arbeitshypothese formulieren könnte. Wir tun das heute schon, also in der Gegenwart und spüren nicht, dass diese Erkenntnis den status quo wesentlich beeinflusst hätte. Warten wir also ab, was die Zukunft als unvollendete Gegenwart bringt. 
Zugegeben, diese Bemerkungen sind reine Aporien, deren Nachhaltigkeit nicht wirklich beweisbar ist. Dennoch müssen wir uns in Zukunft verstärkt dem Problem des Nicht-Wissens und vor allem auch dem Phänomen des Nicht-Wissen-Könnens widmen, interdisziplinär, problemorientiert, ergebnisoffen. Ich wage daher an dieser Stelle auch die kühne Behauptung, dass erst, wenn wir das Tabu brechen, wenn wir die Tatsache des Nicht-Wissens aus dem gesellschaftlichen Niemandsland, wo es sich erstaunlich wohlfühlt und permanent vermehrt, herausholen und es verstehen lernen, um es zu nutzen, nicht um es durch weitere Investitionen in das Wissen und den Wissenserwerb zu bekämpfen. Das Nicht-Wissen ist eine Jahrhunderte, Jahrtausende alte Technik, mit den Unwägbarkeiten des Lebens zurecht zu kommen. Es hat sich als eine der stärksten Strategien im survival of the fittest evolutionsgeschichtlich behauptet und ist heute unbestritten eine der wichtigsten und wirkungsmächtigsten Antriebe der Gegenwart in allen gesellschaftlichen Positionen. 


Lernen wir das Nicht-Wissen also verstehen und öffnen uns den Fragen der Bedingungen seiner Existenz. Ob es etwas nutzen wird, das allerdings wissen wir nicht.

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